Die Stadt ließ sich anschauen wie Kino, sie sah nicht zurück. Männer mit schmalen Gürteln über expandierenden Bäuchen. Frauen im Galopp auf klappernden Schuhen. Kinder in Schuluniformen, sich zum Abschied küssend. Bustüren, die sich zischend öffnen. Bäume mit Eisenkragen im Asphalt. Metropolitain. Tabac-Presse. Défense d’afficher. Da war ein Fuchteln und ein Schmatzen, ein Rufen und ein Augenzwinkern. An der Concorde stieg sie nicht um wie sonst, sondern ließ sich mit den anderen nach oben treiben. Die merkwürdige Lust, Männern in Anzügen zu folgen. Die sahen so aus, als wüssten sie, wo es hingeht. Es wurden immer mehr, je näher sie der Börse kam.
Marleen fragt sich, warum es Männer sind, denen man das Geld anvertraut. Warum es Männer sind, die sich Frauen kaufen, und nicht umgekehrt. Sie fragt sich, ob es Dinge gibt, die ganz für sich und unabänderlich sind. Oder ob alles beweglich ist. Und wenn alles beweglich ist, ob alles mit allem zusammenhängt. Sie ist so sehr in Gedanken, dass sie in der Konditorei nicht entscheiden kann, welches Gebäck sie nehmen soll. Monsieur le Confiseur bedient selbst mit weißer Haube. Die Konfusion der jungen Ausländerin mit diesem Blick, der durch die Dinge durchgeht, stört ihn gar nicht.
«Ein Himbeertörtchen steht für das Verlangen«, sagt er.
«Und das da?«
«Ein Blaubeertörtchen besiegelt die richtige Entscheidung.«
«Die da oben?
«Das sind Madeleines, Madame. Die Madeleine küsst die Erinnerung wach.«
Hinter ihr stehen zwei Kundinnen. Sie amüsieren sich.
«Was ist mit dem Zitronentörtchen?«
«Das Zitronentörtchen meint den Augenblick. Es öffnet ein Fenster in den Tag.«
«In welchen Tag?«
«In diesen, jetzt … Mademoiselle.«
Das nimmt sie und setzt ihren Weg in Richtung Marais fort. Und dann ist da einer, an den sie ihren Blick geheftet hat. Der ist soeben aus der Bibliothek gekommen, glaubt sie. Er streckt den Körper und den Geist. Er kehrt zurück ins materielle Leben. Wie macht er das, dass er so kräftig ausschreitet, es aber aussieht, als schlenderte er?
Marleen hängt sich dran, geht ein bisschen schneller, holt auf. Bügelfalten, gestreiftes Hemd, Janker. Es könnte ja. Es könnte ein Landsmann sein. Wäre da nur nicht dieser Rucksack. Der spricht dagegen. Sonst könnte es Franz sein. Franz drei Jahre weiter. Mein Gott, wie hat sie ihn vermisst. Anfangs. Dann versucht auszulöschen. Später wieder zugelassen. Wenn nicht sogar verehrt. Einmal hat sie ihm eine Postkarte an die Adresse der Mutter geschickt, aber ohne Absender und ohne Text. Zwei Wochen Pein, weil nichts zurückkam. Der aufgeschobene Abschied. Ein gutes Wort. Sie spricht nicht sehr laut, aber er ist zum Greifen nah,
«Franz?«
Er bleibt auf der Stelle stehen, sie fällt in ihn hinein. Das Zitronentörtchen stürzt zu Boden. Sie tun sich nicht weh und sie küssen sich nicht, aber beides beinahe. Sie sehen sich in ihre erschreckten Gesichter.
Marleen war nicht ganz bei ihren Buchstaben dieser Tage. Sie war entweder mit Franz oder nicht mit Franz, und wenn sie nicht mit ihm zusammen war, dachte sie zumindest daran, schmückte es sich aus, verglich es mit früher. Das plötzliche Treffen an der Börse war das Schwierigste gewesen, fünf Minuten aufgeregtes Starren auf beiden Seiten, diese Dummheit, sich nicht zu umarmen, das Suchen nach Worten, die nicht weh tun. Schließlich hatte Franz gesagt, nach der Arbeit in der Bibliothek begehe er den Marais wie seinen eigenen Garten, und ob sie mitkommen wolle.»Was heißt denn das eigentlich?«, hatte sie ihn gefragt und auf die blassgrauen Buchstaben gezeigt, DEFENSE D’AFFICHER, die einst pechschwarz auf eine Hauswand geschrieben worden waren, unterlegt von einem weiß getünchten Band, von dem nur noch ein Hauch geblieben war.
«Plakatieren verboten!«, antwortete Franz.
«Ach!«
Sie malten sich das alte Paris aus, wie es einst gewesen war. Die Plakate vom Circus und von den Revuen auf Montmartre. Akkordeonspieler; Kinder, die mit Kreide die Straße markierten; hungernde Katzen in Rudeln. Bürger mit Melonenhüten, Herren im Frack. Schaufensterauslagen: Spitzen. Korsetts. Der Eingang zu einem Club, dekoriert als geöffneter Schlund eines Monsters. Die Strickerinnen, die Milchmädchen, die Tänzerinnen, die Huren, rauchend. Eine haushohe Wandbemalung: ein Mann im Profil, der ein Cognacglas zum Trinken neigt.
«Und es roch«, rief Franz.
«Es stank!«, brüllte Marleen.
Vor ihnen war ein alter Pudel an der langen Leine zurückgeblieben. Er hob das Bein. Auf dem Bürgersteig, dessen Neigung erst in diesem Moment sichtbar wurde, breitete sich eine Pfütze aus, während der Pudel davonlief. Franz und Marleen blieben stehen. Die Pfütze ging zunächst in die Breite, Zacken und Zinnen, schloss sich nach unten und verlief dann in einem Rinnsal.
«Kennst du den Rorschachtest?«, fragte Franz.
Er war Stammgast in der Brasserie Au Vide Gousse, ein ältliches Lokal im Gewirr der Straßen jenseits der Bibliothek, düster und verraucht. Sie wurden an einen kleinen, quadratischen Tisch gesetzt. Sie sahen einander an, sie sahen aneinander vorbei; sie beäugten sich, zwischendurch brachen sie in nervöses Lachen aus. Marleen dachte, wie unklug sie sei, ihr Herz an jemanden zu hängen, der sich für die Einsamkeit entschieden hatte, die Grübelei, für den Zweifel als Prinzip. Sie war versucht, ihn zur Rede zu stellen, warum er sie plötzlich und ohne Nachricht verlassen hatte,
«Ich bin so einsam gewesen, so furchtbar allein, von dir und von mir selbst und von allen guten Geistern verlassen. Die Küche, weißt du, die grüne Küche, habe ich rot gestrichen, blutrot, und am liebsten wäre ich gestorben in dieser Küche, ich bin nicht einmal mehr zu Weingart gegangen, ich wollte nichts mehr, nichts, bis Esme in der Tür stand und …«
Sie studierte stattdessen den vergilbten Zeitungsausschnitt in einem mattschwarzen Rahmen an der Wand über dem Tisch oder die erhabenen weißen Buchstaben, PERNOD 51 PERNOD 45, die auf einem meerblau lasierten Aschenbecher rund liefen. Wenn sie zu Franz hinsah, traf sie seine Augen, die ihr auswichen. Er schien sich zu fragen, wer sie war. Und sie selbst wollte gern wissen, wer sie sei, und warum sie eine andere war in seiner Gegenwart, Gefühle bis in die Zehenspitzen, ein Kitzeln auf der Kopfhaut, das unbegreifliche Rasen der Zeit. Vielleicht hatte sie versäumt, es ihm zu sagen, und nun war die Stunde gekommen:
«Es ist doch so, mein lieber Franz, dass du geflüchtest bist vor meiner Liebe. Erst bist du zu mir ins Nest gekrochen, und dann bist du entwischt. Ich weiß nicht, was du tust und getan hast und mit wem du deine Tage und Nächte verbringst und all das. Nein, ich will dich nicht davon abbringen. Du sollst nicht in einem Doppelbett mit mir liegen in einer Doppelhaushälfte. Aber wir gehören zusammen — stimmt das, Franz — gehören wir nicht zusammen?«
«… ein Klecks, der mechanisch verdoppelt wird …«, hörte sie ihn sagen.
«Wir sollten uns Ringe kaufen oder uns die Adern aufschlitzen und unser Blut trinken …«
«… und das Bild, mehr oder weniger symmetrisch …«
«… oder uns heimlich trauen lassen, von einem Priester, um Mitternacht …«
«… wird dem Patienten vorgehalten mit der Frage ›Was ist das?‹«
«… und dann kannst du zurückschleichen in deine Bibliothek, weil ich dann nicht mehr fürchten muss, ohne dich zu sein …«
«Und wenn er dann sagt: ein Ei, eine Spinne, ein Huhn, ein Auge oder so, dann ist er verrückt.«
«Warum das?«, fragte Marleen, die keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
In dieser Nacht lag sie wach in ihrer Kammer, in der Gaube Restlicht wie Kohlestaub. Wie würde sie es machen? So würde sie es machen:
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