«S’sind jungi Lüüd, wo … Das sind junge Leute, die alles selbst nähen. Sie haben es auch mit einem Männerparfum probiert, das ein wenig zu streng geraten ist. Hier, sehen Sie das Bild. Ein schmales Ladengeschäft, in der Nähe vom Boul’ Mich’, auf dem Weg zur Universität.«
«Ist das … Ist das für hier ein normaler Auftrag?«Besser kommt es erst einmal nicht raus. Es ist ja erst ihr fünfter Tag.
Furrer wundert sich, wie forsch sie ist:»Ob er nicht zu klein ist, meinen Sie?«
«Ja, ich dachte …«
«Er ist klein, das stimmt. Aber wenn wir einen Auftrag annehmen, meinen wir es immer ernst. Da ist jeder Kunde gleich. Ob Condé Nast oder Rien, der Entwurf muss überzeugen. Nur bin ich selbst noch nicht überzeugt. Die Versalien habe ich so entworfen, dass sie aussehen wie schmale Figuren, die soeben zum Leben erwachen. Das gefällt mir. Das ganze Ding aber flattert. Bitte kümmern Sie sich um die Stände. Oder lösen Sie es, wie Sie wollen. Sie sind frei.«
«Schwarz-weiß?«
«Ich finde schon. Die haben ja kein Geld. Dieses Logo soll übrigens universal verwendet werden, für Preisschilder, Rechnungen, Korrespondenz. Let’s keep it simple.«
Es dauert einige Stunden, dann hat sie’s, das E um 180 Grad gedreht, nach oben geschoben — Paternoster — und alle vier Buchstaben negativ in einen schwarzen Block gestellt. Furrer korrigiert daraufhin sein N, dass es eine Spur mehr auslädt, gibt es ihr zurück zur Montage. Am Ende des Arbeitstages hängt es in stechender Präzision auf Folie gedruckt am» Aushang«, ein Korkbrett in der Werkstatt, an dem man den Stand seiner Arbeit zeigen kann, wenn man möchte.
«Es ist ein Blitz«, sagt Stüssi.
«Es ist nichts«, sagt Furrer. Marleen wird bleich. Dann begreift sie das Wortspiel. Passeraub steht als guter Hirte lockig im Hintergrund und nickt. Am nächsten Morgen um neun erreicht sie die Nachricht, dass sie zu ihm» an den Platz «kommen soll.
Titus Passeraub sah man sein Genie nicht an. Zwar hatte er diesen ins Silbrige changierenden Haarschopf und ein ernstes, aufgeräumtes Gesicht. Aber er war nicht sehr groß und beugte sich, sitzend wie stehend, leicht nach vorn, was einen servilen Eindruck hinterließ. Das aber hatte nichts zu tun mit seinem Selbstbild. Er war der entschiedenen Ansicht, den lesbaren Schriften im 20. Jahrhundert den wesentlichen Schub gegeben zu haben. Mit dreißig Jahren hatte er die Kosmos fertiggestellt, eine in jeder Richtung ausgearbeitete Systemschrift, die man nur noch, Detail für Detail, in die Vorlagen des Fotosatzes einspeisen musste, und schon hatte man alles, von den feinsten kursiven Minuskeln bis zu den ultrafetten Versalien, englaufend, weitlaufend, ein Kosmos in der Tat für den Typografen im Einsatz. Seiner Sache sicher, hatte Passeraub bei dieser Gelegenheit Bezeichnungen wie» mager«,»halbfett «und» fett «abgeschafft und stattdessen die Schriftstärken durch Zahlen wie 55, 65, 75 angezeigt, denn wer sich in seinem Kosmos bewegte, war kein Handwerker mehr, ja vielleicht schon Ingenieur. Ob sie auf Katzenpfoten daherkam oder mit Pauken und Trompeten, die Kosmos war für jeden Schriftgrad in jeder Stärke bis ins Detail dieselbe Schöpfung im Kern, modern, aber nicht borniert; klar, aber nicht kalt; serifenlos, aber beseelt. Und das war nur der Anfang gewesen, Passeraubs Einstand bei Terreau & Racine, deren Boom mit dem Fotosatz er überhaupt erst ermöglicht hatte. Marleen war im Jahr zuvor auf die Kosmos gestoßen, zunächst glaubend, dass es sich um eine ganz neue Schrift handelte. Dabei war diese älter als sie selbst.
Marleen, wie sie in Titus Passeraubs Atelierraum erschien, war mittlerweile zweiundzwanzig Jahre alt. Sie saß da in ihren Stuhl gegossen und hörte ihm zu. Der Straßenlärm kam hoch vom Boulevard. Es war Herbst. Sie wunderte sich über Passeraubs Zuwendung: Warum sollte er ausgerechnet ihr, der Neuen, seinen jüngsten Schriftentwurf vorstellen, der längst fertig war und dessen Markteinführung soeben begonnen hatte? Marleen aber hörte von den inneren Stimmen auf die mächtigste, die ihr sagte, dass sie hier am richtigen Platz sei. Es war ihre Aufgabe, Passeraub dabei zu lauschen, wie er die Tempi Novi erläuterte; sein letzter Versuch — daran ließ er keinen Zweifel —, dem Drängen der Moderne nachzugeben und diese mit Umsicht rückzubinden an die Traditionen der Schrift, von denen Passeraub zu wissen glaubte, dass sie nicht technisch, sondern menschlich waren.
«Also, was denken Sie?«, fragte er.
Marleen hatte ein schmales Gesicht, eines, das die Luft teilt. Hörte man ihr zu, war man versucht sich umzudrehen, also ihrem Blick zu folgen. Was sie sagte, hatte nicht zwingend mit dem zu tun, wohin sie schaute.
Naheliegend war es, Passeraub beizupflichten und die Tempi Novi als Lösung aller Probleme auszurufen, als Vollendung der modernen Schrift überhaupt. Nur, wie sollte sie das begründen;»Gefühl «oder» guter Geschmack «war hier bestimmt nicht gefragt. Außerdem war klar, dass Passeraub die Vorteile seiner Schrift besser kannte als ausgerechnet sie. Gab sie seine Selbstbeschreibung zurück wie ein Papagei, hielt er sie für schwach im Kopf. Erwähnte sie einen Vorteil, den sie selbst darin spürte — deren Unauffälligkeit —, fühlte er sich womöglich verkannt oder, schlimmer noch, belehrt. Die andere Möglichkeit bestand offensichtlich darin, ihm zu widersprechen, auf die Mängel der Schrift hinzuweisen. Die Kosmos war bereits minimalistisch gewesen, aber dennoch dynamisch, ein Resumée, die letzte in der Reihefolge der Generationen, alle Vorteile in sich versammelnd, die Futura und die Helvetica als die älteren Schwestern. Die Tempi Novi dagegen schien keine Verwandten zu haben; ihre Ähnlichkeiten waren die eines Klons. Ihren Namen konnte man ebenso als Verheißung begreifen wie als Drohung. Marleen dachte an ihren Plan, der ihr jahrelang vor Augen gestanden hatte: eine Schrift ohne Signatur zu schaffen, bereinigt von den Resten der in Stein gehauenen Sprache. Erst jetzt begann sie zu ahnen, dass es nicht dasselbe war, Traditionen auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren oder sie zu schleifen wie lästiges Dekor. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob sie den Unterschied zwischen der Kosmos und der Tempi Novi richtig erkannte, und sie müsste Passeraub — und das wollte sie auch gleich tun — danach fragen, er war schließlich beider Erfinder, gar nicht zu reden von einer dritten und gewiss nicht unwichtigen Schrift, die irgendwie in der Mitte der beiden anderen stand, für einen Pariser Flughafen geschaffen worden war und später, weil sie für die allgemeine Markteinführung einen Namen brauchte, Passeraub genannt wurde. Sollte es aber stimmen, dass die Kosmos die eine Möglichkeit darstellte und die Tempi Novi die andere — zwei Enden des Spektrums, wenn man sich vornimmt, eine Schrift zu schaffen, die kein Eigenleben führt —, dann gäbe es nichts mehr zu tun. Das konnte überhaupt der Grund sein, dass sie hier saß, vorbestimmt durch geheime Mächte; dann wäre Passeraub als Moderner ein Gott der Gottlosigkeit, nicht im wirklichen Leben, sondern im Reich der Schrift, und sie wäre die Ketzerin, die nun gezwungen war anzuerkennen, dass den Kult der Gottlosigkeit zu begründen nicht mehr möglich wäre, weil es ihn längst schon gab. Sie müsste ihm hier und jetzt ohne großes Aufheben beitreten, um danach für immer zu schweigen.
Dies war es, was Marleen durch den Kopf ging. Sie bemerkte kaum, wie das Licht auf dem Boulevard diffus wurde. Sie hörte nicht das Rufen und nicht das Schreien. Sie wunderte sich, dass ihr Geruchssinn schmelzenden Kunststoff meldete, während sie über die Zukunft der Groteskschrift nachdachte. Sie glaubte, das Brodeln von Konfusion und Unheil, das in Waben zu ihr vordrang, hätte zu tun mit ihren eigenen Gedanken.
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