«Du bist das Mauerblümchen der Pomona«, dachte sie.»Das kann ja noch was werden. «Dann zog sie sich wieder an und widmete sich dem Männlein, das dabei war, sich in einen glatzköpfigen Lufttroll zu verwandeln, dem sie in der Viertelstunde bis zum Mittagessen mit den Kindern einen geflügelten Tornister verpasste.
In der Pomona wurde Petrus nur noch selten gesichtet, ein beseelter Handelsreisender, aus dessen Koffern fremde Stoffe und Gerüche kamen, die sich im Haus ausbreiteten, und schon war er wieder unterwegs. Im November vergaß er gleich drei Geburtstage — Lores, Johannas, Linus’. Zu Beginn der Adventszeit raspelte er süße Worte von einem» Familientreffen «in Florida, er würde von Indien nach Amerika fliegen, hatte aber noch keine Zusage für das Haus dort; und bat Lore am 19. Dezember, die Kinder wie auf heißen Kohlen, zu erfragen, was es koste,»mit der ganzen Bagage am 24. rüberzusetzen«. So drückte er sich aus. Es kostete, wie Lore herausfand, so viel wie ein neues Auto. Er bedauerte das sehr:»Es wird hier jetzt erst richtig interessant. Die ganze Sache ist in Gründung, mit Hand und Fuß, davon können Leute wie wir eine Menge mitnehmen. «Diese Worte, Petrus’ Handschrift, kamen aus dem Fernkopierer, den Lore angeschafft hatte, um bei Auftraggebern Eindruck zu machen, ein kühlschrankgroßes Gerät im Hausflur, auf dem das Telefon stand. Die Absender-Kennung verriet eine Werbeagentur in Delhi, obwohl Petrus vorgab, in Poona zu sein. Nicht, dass es im Haus keinen Weltatlas gegeben hätte.
Über die Feiertage sollte die 133 ergänzt werden durch Ingolf, der jetzt weinrote Feincordhosen trug, das ausgestellte Bein den Schuh verdeckend. Seine Eltern hatten sich in der Adventszeit zerstritten. Der Vater war in ein Düsseldorfer Penthouse gezogen, das er schon Monate zuvor heimlich gemietet hatte. Die Mutter hatte einen Skiurlaub im Zillertal, der Vater in Sils Maria gebucht, beide den Jungen bedrängend mitzukommen, während sie miteinander schon nicht mehr sprachen. Zufällig hatte Ingolf den Anwalt des Vaters am Telefon, den er in aller Ruhe belehrte, eine Scheidung seiner Eltern sei» aus kirchenrechtlichen Gründen «ausgeschlossen.
Nun sah man, dass ein großes Herz zu haben nicht schaden konnte. Marleen, die er einfühlsam hatte wissen lassen, die heilige Kirche stünde ihr immer offen und außerdem habe sie in der Messdienerinnenfrage eigentlich recht, entging Ingolfs Verzweiflung nicht. Als er auf dem Pausenhof verlegen stotterte, half sie ihm weiter.
«Bei uns wackeln auch die Wände.«
«Ja?«
«Und ob. Wenn ich mir meine Mama angucke. Mein Daddy turnt seit einem halben Jahr in Indien rum.«
«Aber der kommt ja zurück.«
«Glaub’ ich nich’.«
«Was?!«
In den nächsten Tagen sah man sie immer zusammen, so wie am Anfang. Nach einer fünften Schulstunde blieben sie einfach sitzen, legten, als alle gegangen waren, die Köpfe aufs Pult und flüsterten sich ihre Geheimnisse zu. Marleen durfte wieder ihre Hand in Ingolfs Haar legen, wo sie liegen blieb wie ein Ei im Nest. So entstand der Plan, dass er sich dem Streit seiner Eltern vorerst entziehen sollte. Er solle, ersann Marleen, dem Vater andeuten, dass er mitkommen werde in die Schweiz, und der Mutter, dass Österreich klarginge,
«Das merken sie ja nicht, wenn sie nicht miteinander reden.«
Ingolf grinste unter der getrockneten Spur seiner Tränen. Am letzten Schultag vor Weihnachten, so Marleen, würde er mit seinem Fahrrad in der Pomona 133 auftauchen und von dort aus zwei Anrufe tätigen, deren Folge doch mit großer Wahrscheinlichkeit sein würde, dass die Eltern jeweils allein abreisten und Ingolf zurückbliebe.
Ingolf:»Du musst nur vorher deine Mama fragen.«
Marleen:»Och.«
Als es dann so weit war, log er gegenüber dem Vater, er fahre jetzt doch mit der Mutter. Die aber war nicht so leicht zu überzeugen. Er bemühte sich, es so klingen zu lassen, als wäre Weihnachten bei den Schullers zu verbringen die natürlichste Sache von der Welt; keinesfalls durfte bei seiner Mutter die Furcht aufkommen, Ingolf könne ihr verlorengehen. Schließlich erschien sie in der Pomona mit ihrem schwarzen Mini, ein Paar Skier auf dem Dach, im Kofferraum Geschenke, und besprach sich mit Lore, die so tat, als würde Petrus zu Weihnachten zurückkommen, was sie selbst einen Moment lang glaubte. So fuhr Ingolfs Mutter davon, in der festen Überzeugung, der Junge suche für den schlimmsten Augenblick die Geborgenheit einer intakten Familie. Während er in Wirklichkeit, auf seine Weise, ein aparter Ersatz für Petrus sein würde, ein Mann im Haus. In Vorahnung dessen, und sei sie noch so schemenhaft, trafen sich, ohne darüber miteinander zu reden, Lore und Marleen in kleinen Lügenmanövern.
Ein richtiger kleiner Prinz war er. Marleen schenkte Ingolf ein Stehkragenhemd mit zwei vertikalen Bändern glitzernder Pailletten, das ihr Petrus mitgebracht hatte, von Cristina bekam er dänische Clogs, und Johanna hängte ihm ein hölzernes Kreuz um, an einem schwarzen Lederband, so dass Ingolf mit seinen weinroten Cordhosen und seiner Haarpracht in den modernen Räumen der 133 wirkte, als wäre er soeben aus Haight-Ashbury eingeschwebt. Er umschwärmte Marleen und betete heimlich mit Johanna, war in väterlicher Weise zärtlich zu Cristina, die ihn mit ihren florentinischen Augen still bewunderte, und trug Linus auf dem Rücken, der begeistert war von dem Wunder, plötzlich einen älteren Bruder zu haben. Was die Messen betraf, waren alle mal dran, Pius, Quirin und Dreikönige. Pius beehrten sie am Silvesterabend um sechs, wo die Messe vom Kaplan Valentin gelesen wurde. Lore nahm diesmal teil an der Kommunion, und als der Kaplan ihr den Becher reichte und ihr in die Augen sah, trank sie vom Blut Christi mit der ungeahnten Folge, dass sie den Kopf senkte und die Augen schloss und etwas im Licht einer Kerze vor sich sah: sich selbst und den Kaplan in vollständiger Vereinigung. Sie spürte, wie ihr der Kopf rot anlief, und es war ihr gerade recht.
Am ersten Geschäftstag des Jahres 1975 saß Lore, vom Betrieb im Foyer abgeschirmt durch eine graue Stellwand, beim Filialleiter der Deutschen Bank, mit einer kniffligen Frage. Wie konnte sie, als Ehefrau, es verhindern, dass ihr Mann einen Teil des gemeinsamen Vermögens einer Sekte vermachte; und war es möglich, sein monatlich aus Düsseldorf überwiesenes Gehalt vor Abbuchungen aus der Ferne, die schon in erheblichem Umfang stattgefunden hatten, zu schützen? Der Bankmann las, nur gelegentlich sich räuspernd, die Unterlagen und gab dann Entwarnung. Das Haus, weitgehend abbezahlt, sei auf beider Namen eingetragen und mit einer Unterschrift allein nicht zu veräußern. Noch ausstehende Kredite müssten selbstverständlich weiter bedient werden, sonst drohte Gefahr. Er schlug vor, den Dispositionskredit des gemeinsamen Kontos auf null herunterzufahren und das Gehalt am Tag seines Eingangs — er versprach, darauf in den nächsten Monaten persönlich ein Auge zu haben — auf ein anderes Girokonto zu überweisen, das sie jetzt unter eigenem Namen, gesichert gegen Zugriff» einer anderen Person«, eröffnen würde.
«Kann es da rechtlich Probleme geben?«
«Womit, gnädige Frau?«
«Mit dem Transfer des Gehalts.«
«Nein. Sie haben die Vollmacht über dieses Konto, und Sie nutzen sie. Das ist alles. Das Problem könnte nur mittelfristig sein, wenn — ich meine falls — das Gehalt von … wie heißen die jetzt noch mal … Kilip und Partner nicht mehr überwiesen würde.«
«Ich bin selbstständig«, sagte Lore.
«Gewiss«, antwortete die Deutsche Bank, sich ein flüchtiges Lächeln erlaubend.
Am gleichen Nachmittag gab Lore die beiden Enten beim Citroën-Händler ab, im Tausch für einen himmelblauen CS Break, ein Automobil von ungewöhnlicher Heiterkeit.
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