«Hm, hm, … du weißt ja, ich bin an der Tempi Novi dran. Es geht um einen noch fetteren Schnitt.«
«75. «
«Nein, fetter.«
«85. «
«Ja, so wird er wohl heißen.«
«Okay-i.«
«Meinst du, dass man den Schnitt auch errechnen kann? Rein mathematisch, meine ich.«
«Ganz im Prinzip schon. Eine elektronische Matrix kann eigentlich alles. Allerdings sage ich dir jetzt schon: Es wird Passeraub nicht gefallen.«
«Dass wir das programmieren.«
«Nein, das ist dem egal. Ich meine die Belichtung, die dabei herauskommt.«
«Das kann sein. Aber du sollst die auch nicht ihm geben, sondern mir.«
«Okay-i. Am besten ist, du nennst mir eine Buchstabenfolge, die dir etwas bringt. Meistens arbeiten wir mit ›Rafenduks‹.«
«R-a-f-o-?«
«Nein, R-a-f-e-n-d-u-k-s.«
«Es wäre gut, wenn ein großes H und ein kleines o dabei wären.«
«Kein Problem. Ich finde etwas. Aber ganz auf die Schnelle geht das nicht.«
Marleen beschloss, nicht auf Monique zu warten. Sie zeichnete» Hono «neu und klopfte kurz vor Mittag an Passeraubs Tür. Er beugte sich über ihre Buchstaben, als gäbe es etwas zu essen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte daran geleckt. Er blickte nur kurz zu ihr auf, verschmitzt, nahm eine Schere und schnitt jeden Buchstaben aus. Es sah so aus, als führte er die Schere nicht ganz exakt, denn er nahm winzige Partikel mit, die als schwarze Sichelmonde, Halme und Haare auf seinen Schreibtisch fielen. Die ausgeschnittenen Buchstaben legte er in eine Schale, die er ihr gab:
«Das lassen Sie den Wendelin in Folie schneiden.«
Wendelin schnitt Folien mit einem Messer, das aussah wie ein Stift. Um die Vorlagen nachzuschneiden, beugte er sich sitzend vor, seinen Bauch am Arbeitstisch quetschend, und korrigierte fortwährend den Sitz der Brille im schwitzenden Gesicht. Das Original, wie es von Passeraub gekommen war, klebte er auf eine weiße Unterlage. Die Folie, in die er die Form schneiden würde, fixierte er darüber. Es kamen eine ganze Reihe von Kurvenlinealen zum Einsatz, die er jeweils für Zentimeterstrecken nutzte; manches erledigte er freihändig, keuchend. Die rote Folie überreichte er Marleen schließlich mit einer galanten Geste. Dann versank er wieder in seinem Stuhl und schwitzte über dem nächsten Auftrag.
Als Marleen am frühen Abend ging, war Monique nicht mehr da und Alain belagert von Furrer und Stüssi.
Auf der Straße spürte sie ein Schaudern. Im Au Vide Gousse begrüßte sie der Kellner wie einen Dauergast. Er brachte ihr, ohne dass sie ihn bestellt hätte, den kleinen Milchkaffee. Unter die Untertasse schob er einen Umschlag. Darauf stand» M«. Marleen riss ihn auf. Sie fand eine beschriebene Seite mit einer Adresse als letzte Zeile: Franziskanerkonvent, Wohnheim, Sedanstraße 23, Hamburg. Die Postleitzahl fehlte. Darüber stand:
«Marleen, ach Marleen. Was man nicht darf, steht an den Wänden. Aber was man darf, was einer wie ich darf, ich weiß es nicht mehr. Deshalb fliehe ich vor Dir, ich muss das tun. Vergib mir. Ja, es gibt etwas, das uns verbindet. Das war von vornherein so, ich weiß. Für einen Augenblick, mit Dir, war die Zukunft zum Greifen nah. Ob Gott es so will? Ich bin ohne Zeichen und ohne Rat. Franziskus«
Sie wollte zahlen, aber der Kellner nahm das Geld nicht an.
Marleen behielt den Kopf aufrecht. Wie ferngesteuert lief sie von der Bibliothek bis nach Hause. Zu Hause, das war jetzt die Wohnung von Pierre und Ann, Dämpfe aus der Küche, wohltemperiertes Klavier. Der Schoß der Familie. Die Kinder löffeln dein Herz aus. Sie war schlaflos bis weit in die Nacht und wachte noch vor der rosa Stunde auf.
Sie verwarf ihre Bedenken und wühlte in den Papieren unter dem Bett, wo sie Simones Entwürfe gelagert hatte, unter dem Koffer, um sie wieder plan zu bekommen. Sofort sah sie, dass ihre Vorgängerin gescheitert war. In der Verstärkung war die Schrift ihr plump geraten. Sie hatte kein Auge gehabt für den graziösen Anteil der Geometrie. Die Tempi Novi war eine Schrift, die atmete. Das war es, was nicht verlorengehen sollte.
Marleen legte sich wieder ins Bett, fror, schlief schließlich dennoch ein, verschlief, bekam von Pierre einen Kaffee in der Küche und machte sich, anders als an anderen Tagen, zu Fuß auf den Weg. Es war weit nach Montparnasse. Schlierenhimmel, vage gelbliche Lichter, von beweglichen Blenden verschlossen zu grau. Ein Herbstwind wie eine unsichtbare Wand, die gegen die Laufrichtung schiebt. Sie hatte sich angewöhnt, stolz zu gehen, Bauch und Brust raus, Schultern grade, lässig und flott ausschreitend. Über die Brücke, die Seine ein quecksilbernes Band, durch das dröhnende Saint Germain, mit Pauken und Trompeten nach Montparnasse. Aber sie nahm kaum etwas wahr von der Stadt. Vor ihren Augen standen sämtliche Zeichen der Tempi Novi , als wären es Teile eines gigantischen Mobiles, das sie durchschritt. Sie war angekommen im Labyrinth der reinen Form. Man musste wiederum das Lesen verlernen und nur die Buchstaben fixieren. Kratzte man den Sinn weg, erschien die reine Gestalt. Wendelin brachte vom Labor die belichtete Computerschrift, das Positiv. Er ließ das Blatt auf ihren Arbeitstisch wehen wie eine Feder. Marleen aber sah nicht, wie sie hätte sollen, die Schrift. Sondern sie las: Hamburgerfonts.
Wendelin sah, wie sie gefror:»Das hätte ich dir gleich sagen können, dass man ein Schriftmuster am Computer nicht errechnen kann. «Er stand noch eine Weile neben ihr, aber sie rührte sich überhaupt nicht mehr. In der Tat hatte Marleen Wendelin vergessen. Sie war mit ihren Gedanken in Hamburg, und da hing sie fest.
Es war schon Nachmittag, und Marleen flüchtete aus dem Atelier, sobald sie konnte. Am Abend musste Pierre nur fragen, wie es ihr ging, und sie sackte dort, wo sie gerade stand, zusammen. Er schleifte sie halb, halb trug er sie zum Sofa. Sie weinte, erst ganz still und später lauter, während Pierre sie unbefangen zuerst im Haar und an der Schulter streichelte, dann drückte, aufrichtete; Ann sah es von der Küche aus. Das war Pierres Stunde. Etwas im katholischen Urgrund, möglicherweise, Beichte, Segnung, Trost.
Der Rest der Woche war eiserne Routine. Marleen zeichnete zwanzig Zentimeter große Buchstaben auf eine Schriftlinie und dachte an nichts anderes mehr. Sie machte sich Schablonen, Doppel, Varianten. Sie vergrößerte den Computerausdruck dreifach am Kopierer und dekorierte damit die ganze Wand ihrer Nische. Sie würde den Hamburgerfonts anstarren, bis er nichts anderes mehr wäre als das, was er sein sollte, ein Beispiel. Sie würde eine Buchstabenmönchin werden, Konvent Passeraub, Paris.
Am Freitagnachmittag zeigte sie Passeraub die Entwürfe. Er nahm einige Korrekturen in den Bleistiftzeichnungen vor.
«Ja, so ist es richtig. Aber braucht es das?«
Marleen zögerte. Das hatte er, glaubte sie, schon einmal gefragt. Aber was hatte sie geantwortet? Sie schaute unwillkürlich auf das Kaufhaus gegenüber. Aber es brannte nicht. Sie sagte:
«Nicht unbedingt.«
«Eben«, sagte Passeraub.»Vollenden Sie es auf jeden Fall.«
Marleen sah ihn ungläubig an.
«Wissen Sie, die jungen Leute, Neu York, das Marketing, die machen einen einfach verrückt.«
Vier Personen in einem Raum, italienisches Mobiliar, Parkett dunkel und glatt. Zwei Männer von hinten gesehen, zwei von vorn, alle sitzen. Zwischen denen, deren Gesichter zu sehen sind, steht ein milchiges, randloses Gegenlicht, das von einem Fenster herrühren muss. Der Teetisch in der Mitte des Quartetts hat zwei große Speichenräder auf der einen Seite und einen Griff auf der anderen, die Karikatur eines bäuerlichen Vehikels. Von den zweien, die man erkennen kann, ist einer bärtig, ergraut, mit einem Krakelee im Bereich von Nase und Stirn: Weisheit und Amusement. Der andere ist blond und schmal, mit einem energischen Mund, der im Vergleich mit seiner beginnenden Kahlheit umso ungewöhnlicher wirkt. Er trägt eine randlose Brille. Der Kahle ist sehr viel jünger als der mit dem Bart. Es liegt eine gewisse Spannung in dem schwarzweißen Foto dieser Viererrunde.
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