Hagen Kluess pflegte aus seinem Porsche zu steigen wie ein Gott aus der Maschine. Er war sofort gegenwärtig, überall zugleich wie ein Duft, auf den Fluren, unter den Arkaden, im fotografischen Atelier, im Seminarraum eins und zwei. Er multiplizierte sich, ein Jünger links, ein Jünger rechts, dann ein Schüler links vom linken Jünger und eine Schülerin rechts vom rechten. Sah man eine schwarze Wolke kommen, war das Hagen Kluess. Wo eben noch der Professor Hof gehalten hatte, blieb ein Stellvertreter zurück, der sprach wie Kluess und dachte wie Kluess. Es war immer von Kluess die Rede oder von Hagen, und wenn er dann wirklich kam, von Montag bis Mittwoch, brummte das Gebäude, ein unablässiger Ruf nach etwas Neuem, ein ständiger, forscher Aufbruch, der alles mit sich riss. Tomas Weingart, gewappnet durch sein Schweizer Temperament, blieb davon unberührt.
Einst war Peter H. Kluess ein bleicher Student gewesen, mit einer starken Nase, das Kinn fliehend im Vergleich. Der hatte nicht selbstbewusst ausgesehen, aber war es; das Flüchtlingskind, das lange braucht, um sich aus dem mütterlichen Kokon zu lösen, dann aber steht es unerschütterlich. Sein Gesicht war nun verlängert um eine gewaltige kahle Stirn, diese begrenzt durch einen scharfen Haaransatz im Zenit des Schädels, sein dunkles Haar nach hinten gekämmt. Den Mund, für das schmale Gesicht etwas kräftig geraten, hatte er durch einen gelegentlich von Hand gestutzten Vollbart gerahmt, die Unterlippe gestützt von einem lichtlosen Dreieck. Mit seinen flatternden Hemdkragen — in die Breite getrieben durch ein orientalisches Halstuch —, und in Jeans, Jacke wie Hose, sah er wie der Star einer Rockoper aus.
Im Jahr zuvor hatte er einen Ruf aus Berlin erhalten. Er hatte mit der Universität Kassel neu verhandelt und war geblieben. Jetzt bespielte er eine ganze Folge von Räumen und ein Beratungszimmer als Refugium. Dieses war belagert von jungen Männern, die berechtigt waren, alle Fragen zu beantworten, sofern sie nicht das ästhetische Urteil betrafen. Eigentlich war es eher ein Atelier, in das eine halbe Etage als Empore eingezogen war: Dort oben pflegte sich der Professor auf dem Sofa auszuruhen, und so war es manchmal nicht ganz klar, ob man mit den Assistenten oder HiWis allein war oder nicht. Die doppelte Höhe des Ateliers bot eine gewaltige Aussicht ins Freie, die Bäumchen noch kahl, die Blätter darunter als gelb-schwarzer Teppich, und Kluess war nicht zu sehen, als Marleen vorsprach, um sich für das Semesterprojekt einzuschreiben. Aus den Roth-Händle zweier lederbejackter Jungen, die sich gegenübersaßen, stiegen blaue Rauchsäulen auf. Sie musterten Marleen von oben bis unten und grinsten einander an, sie ließen sie ihren Namen eintragen, eine Zeile war noch frei, und gaben ihr die» Lektüreliste«. Die war monströs.
«Musste lesen. Hagen besteht drauf«, sagte etwas zu leise und schneidend der Schmale mit den dunklen Augen.
«Ach Quatsch«, krächzte der dickliche Blonde.»Was für Hagen zählt, ist der Entwurf. Superaffengeile Bildidee, und du bist der King.«
«Lektüre ist Pflicht«, brummelte der Schmale.»Der Theweleit mindestens. Den musste draufhaben.«
«Kein Problem«, sagte Marleen.»Worauf läuft das Ganze denn hinaus? Sollen das am Ende Plakate werden?«
«Plakate!«, blökte der Blonde.»Es gibt nicht jedes Semester Plakate. Das ist hier nicht die Langweilerakademie. Vielleicht gibt’s ’nen Film. Bei Hagen weiß man nie. Bring erst mal ’ne gute Bildidee. Das ist Minimum. Sonst fliegste gleich wieder raus.«
Marleen überlegte einen Augenblick, ob sie ihren Namen von der Liste streichen sollte, still, und dann gehen. Stattdessen faltete sie das Blatt auf Achtelformat und verstaute es in der Hintertasche ihrer Hose. Die Assistenten gafften, als sähen sie einen Striptease.
Dann trieb das Grün, Ideen wurden bebrütet und schlüpften im Mai. Es gab keine Mappe mehr ohne schwarz-weiße Fotos, und auf den Fotos sah man immer das schwarz-weiße Kleid: die Passantin in der Gasse; die Hausfrau zwischen den Töpfen; die Lady an der Bar. Ganz für sich, ohne Modell, klirrte es als Flagge im Wind, geisterte durchs Fernsehen, wurde drapiert als Ramsch. Das schwarz-weiße Unding diente als Vorhang, der sich öffnet, und dahinter erschien, natürlich, die Frau entblößt, als Pin-up oder Leiche. Die Tage wurden länger, und die Männer bekamen etwas zu sehen, nämlich ihre Wünsche im konvexen Spiegel, weil das Kleid kein schönes war, und die Frauen hatten so oder so ihren Spaß.
Um diese Zeit war Franziskus seine Bleibe gekündigt worden, eine klapprige Bude in Wilhelmshöhe. Zwar war er dort kaum gewesen, weil er die Kasseler Nächte ohnehin bei Marleen verbrachte, aber freiwillig bei ihr zu sein oder aus Notwendigkeit, war nicht dasselbe. Marleen hatte sich daran gewöhnt, dass er in den Semesterferien verschwand, nach Regensburg oder München oder wer-weiß-wohin und sie nicht mitnahm. Sein Pendeln zwischen Göttingen und Kassel, zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, das ahnte Marleen, schadete ihr nicht. Er war etwas schüchtern, wenn es darum ging, sich ganz auszuziehen, aber umso schöner das Leuchten der Früchte beim Pellen im Halbdunkel; seine Hände trocken und sein Herz fast zu hören, einer der nicht schwätzt und nicht schmatzt. Wie eine Wippe, die auf der einen Seite mehr Gewicht braucht, damit die andere in die Höhe geht, musste Marleen sich schwer machen, sich erden, um ihn in die Schwebe zu bringen; das interesselose Wohlgefallen, die unschuldige Wollust. Einmal, vielleicht aus Versehen, hatte er sogar danke gesagt; sie tat ihm gut, das wusste sie.
Er brachte, als er bei ihr einzog: eine schwenkbare Lampe, ein Köfferchen mit Unterwäsche und Schlafanzug, eine gerahmte Zeichnung und zwei Dutzend Bücher mit furchteinflößenden Titeln. Jetzt, bei ihr wohnend, las er ihre Bücher einfach mit, und manchmal sah sie ihm dabei zu. Er studierte die Notiz über den Autor, dann blätterte er weiter bis zum Impressum, womit er sich eine Weile aufhielt. Er suchte das Inhaltsverzeichnis, wählte ein Kapitel und las dieses dann durch, ohne das Buch wegzulegen. Er las weitere Kapitel an; hielt später das Buch in einer Hand, als schätzte er das Gewicht; und blätterte es dann noch einmal durch wie ein Daumenkino.
Er brauchte Zeit, um seine Sprache wiederzufinden:
«Also, Männerphantasien ist ein absichtlich spektakulärer Titel. Es geht aber eigentlich nur um das Bild, das Männer von sich selbst haben, letztendlich um Klischees. Darauf will dieser Theweleit hinaus. Er schafft tonnenweise Material ran. Alles, was abgehandelt wird, wird vorgeführt im Sinne dieser Klischees. Es geht ihm nicht um etwas Faktisches, also wie es Königen und Helden ergangen ist oder so, sondern nur darum, wie Männer ihre eigene Geschichte geschrieben sehen wollen. Was sie sich abverlangen. Es ist eine Art Schwarzbuch des männlichen Stolzes.«
«Franz, wenn ich das durchlesen soll, geht der Sommer dabei drauf.«
«Wer weiß, ob Hagen Kluess und seine Spießgesellen es überhaupt ganz gelesen haben. Ich mache dir einen Vorschlag. Du suchst dir drei Fallbeispiele. Oder ich suche dir welche raus, wenn du willst. Das reicht erstens, um die Methode zu kapieren. Zweitens kann man sich drei Geschichten locker merken. Fragt dich jemand nach Theweleit, spuckst du einfach ein Beispiel aus. Das ist viel besser, als anderen vorzumachen, man hätte fünfhundert Seiten gelesen. Natürlich nimmst du nicht alle Beispiele aus dem ersten Teil des Buchs. Mindestens eins steht auf den letzten hundert Seiten.«
Diese Empfehlung überraschte Marleen:»Machst du das in Göttingen auch so?«
«Das kommt drauf an. Jedes Buch ist anders. Die Phänomenologie des Geistes zum Beispiel hat ein Vorwort, das sind fünfzig Seiten. Bei vielen Büchern kann man das Vorwort überschlagen, da ist es aber andersherum, man muss es Wort für Wort durchackern. Es zeigt die Methode Schritt für Schritt.«
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