Der schwarze Pulk erschien, die Lieblingsstudenten, Hilfskräfte und Assistenten, und mit ihnen, etwas übernächtigt, Hagen Kluess. Er trug den Jeansanzug und neue, spitze Stiefel, die ihn größer machten, obwohl er nicht klein war. Ohne Vorrede oder Begrüßung begann er seinen Rundgang, während der Pulk am offenen Ende des Hufeisens zurückblieb. Der Professor beugte sich über die Arbeiten, kommentierte sie mit dröhnender Stimme. Er fand eine Idee» frisch, aber noch nicht wirklich elegant ausgeführt«, eine Bildserie» naheliegend, vom Licht her aber magisch«. Nur einmal, bis zur Mitte des Rundgangs, nahm er ein Bild vom Tisch und hielt es hoch. Es zeigte Franz Josef Strauß im Fernsehen, der» das Kleid«, oder eigentlich nur dessen Muster, als Krawatte trug:»Darauf muss man erst einmal kommen. Von hinten durch die Brust ins Auge. «Wer eine empfindliche Nase hatte, konnte den Angstschweiß der jungen Leute riechen, denen Kluess sich näherte.
Nun war er bei Marleen. Sie roch nicht, und sie fürchtete sich nicht. Vor allem war sie nicht Partei. Sie gehörte nicht zur Sekte. Kluess spürte das, wollte sie aber gewinnen. Er hielt ihre Bilder in die Runde, das Graffito als Detail in der linken, den dekorierten Baum in der rechten Hand.
«Männerphantasien«, sagte er.»Nicht übel, oder?«Er legte die Fotos zurück und sah ihr in die Augen. Dann beugte er sich über das Blatt von Franz, las es, nahm es, und zerrupfte es in kleine Stücke, die er wie Herbstblätter zu Boden flattern ließ:»Hirnschmalz. Hirnwichse. Was wir hier brauchen, sind Bilder, Bilder, Bilder. «Franz stand auf, ein wenig bleich, doch ruhig. Er fixierte Kluess, der ihm auswich. Marleen versuchte, Franzens Blick aufzufangen, bevor er sich abwandte und im äußeren Bogen des Hufeisens zur Tür strebte, nicht langsam und nicht schnell. Marleen zögerte. Hagen Kluess war jetzt bei Dorit, der er Komplimente machte. Marleen schob ihre Bilder übereinander, rollte sie, breitete sie dann wieder aus, packte sie noch einmal zusammen, schob den Stuhl zurück — er kreischte — und folgte Franz, der schon längst draußen war. Sie schloss die Tür hinter sich, lief, lief, rief nach ihm, Franz, Franziskus, Franz, aber er war nirgendwo, er wartete nicht, er saß nicht in der Mensa, er hatte sich nicht in der Bibliothek versteckt. Dort verzog sich Marleen im oberen Stockwerk hinter das letzte Regal und weinte stumm.
So wie Kurzsichtige, deren Brille zerbrochen ist, schreckhaft erscheinen, so war auch Marleens Sicht der Dinge plötzlich verkürzt, der Tastsinn verlässlicher als der Orientierungssinn. Hilfe hätte sie gebraucht. Alles, was Franz in der Wohnung hinterlassen hatte, war eine Klemmlampe und die gerahmte Zeichnung an der Wand. Kein Gruß, nichts. Der Schlüssel im Briefkasten. Franz war einfach verschwunden. Sie saß unbeweglich am Küchentisch, vor sich ihre Fotografien, und starrte an die grüne Wand, während sie sich fragte, ob er sie ohnehin hatte verlassen wollen; ob er sie, auch wenn es so schien, gar nicht wirklich verlassen hätte; ob er — wenn sie bei Kluess sogleich aufgestanden und demonstrativ mit ihm gegangen wäre — jetzt mit ihr hier sitzen würde. Eine Antwort fand sie nicht. Sie hatte großen Hunger, es wurde irgendwann dunkel, auf sehr steile, dramatische Art, denn die Küche lag zum Hinterhof, und Marleen saß immer noch da, wund, verwüstet, leer; die Frau ist Brei, schießt es ihr durch den Kopf, die Frau ist das Meer. Aber was soll das bedeuten?
Sie isst wenig, schläft kaum, verpasst am nächsten Tag die Endsemesterpräsentation bei Tomas Weingart, grübelt wieder bei Dämmerung. Sie reißt sich da raus, indem sie zu putzen beginnt, erst Franzens Bett abzieht, dann staubwischt, dann den Herd auf Hochglanz bringt, und als sie die Wischlappen sucht, findet sie eine Plastiktüte, in der zwei Dosen Lack unangebrochen aufbewahrt sind, mit einem Sortiment von Pinseln und Terpentin. Sie öffnet die Dose mit einem Schraubenzieher und ist sofort benebelt von den Dämpfen. Sie malt eine Probe zwischen Herd und Kühlschrank, ein zunächst wässrig-blasser, dann, beim Überstreichen sich tiefrot schließender Fleck. Sie trägt den Tisch in den Flur, rückt die Geräte ab, bringt Fotolampen rein und schrubbt nun den gelackten Sockel, ein erster Angriff, das darf noch einmal glänzen, bevor es verschwinden wird, dieses Pseudogrün, dieses Nichts. Eine Stunde vor Mitternacht beginnt sie, während die alten Fragen in ihrem Kopf kreisen, den Sockel, alles vom Nabel abwärts blutrot zu übermalen. Sie weiß, die Farbe wird am nächsten Tag ein mattglänzendes Kaminrot sein, ein mexikanisches Rot, so wie der Dosendeckel es in Form eines Punktes zeigt, aber jetzt ist es ein Aderlass, ein Rütteln am wehrlosen Opfer, ein rotes Verspritzen, Träufeln, Verlaufen, die ganze Küche eine Riesenwunde, pulsierend, ein geöffnetes Herz. Es tut so gut, sie schläft bei 500 Watt Beleuchtung auf dem Küchenstuhl ein, als sie fertig ist gegen Morgen. Es mag Mittag sein, als es läutet — das Läuten ist aber ein lautes Schnarren, das wie Nadeln unter die Haut geht —, und Marleen, unser Wrack, öffnet wie in Trance. Es ist Esme mit zwei Koffern.
«Esme, nein.«
«Bitte.«
Esmeralda, nach dem Familienbesuch in Murcia an Weihnachten, nahm Abschied von allem, was sie hatte sein sollen. Sie schrieb den Eltern selten und war zuletzt zu Pfingsten in der Kirche gewesen. Alle nannten sie Esme, und sie sprach lieber Deutsch als Spanisch. Sie pendelte zwischen Hochschule und Wohngemeinschaft. Für Dorit hatte sie nackt Modell gestanden und für zehn Leute Paella gekocht. Von Hendrik Müller als Liebschaft entdeckt, weich gemacht, weitergereicht, war sie bei den Schmidts in eine Ménage-à-trois gefallen, fast kein Abend ohne Besuch von Jörg oder von Axel, wobei Jörg zu den Schmidts gehörte, Axel nicht. Aber Jörg und Axel waren gute Freunde ‒»Oder wie nennt man so was?«‒ und wenn Jörg bei Esmeralda blieb, schlief Axel in Jörgs Zimmer. Wenn Jörg, der früher aufstand als alle anderen, sein Zimmer brauchte, wechselte Axel zu Esmeralda, und bevor ihr Tag begann, war sie zwei Jungen zu Gefallen gewesen,
«Man riecht dann richtig, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Aber Marleen konnte sich das durchaus vorstellen, Franz und sie hatten sich auch nicht immer gewaschen, bevor es wieder losging. Marleen rollten die Tränen herunter, während Esme erzählte, und diese fühlte sich gut verstanden.
«Sie wollen am Ende alles von dir. Nix ist denen heilig. Sie wollen dein Haar, deine Augen, deinen Mund, deinen Busen …«
Marleen rang sich ein mattes Lächeln ab.
«Sie wollen dich von oben begucken und von unten. Sie wollen deine, du weißt schon …«
«Deine Scheide«, sagte Marleen,
«… sie wollen das von hinten und von vorn, am besten noch zugleich, und dann gibt es ja auch noch das schöne Poloch. Und ich habe mich da drauf eingelassen, Jörg und Axel, für die war das so eine Art …«
Marleen fing an zu lachen unter ihren Tränen. Was ihr schmerzhaft fehlte, hatte Esme zu viel. Was für eine Koalition von Pechvögeln.
«Jedenfalls weiß ich nicht, wie ich wieder nach Hause fahren soll. Für meinen Vater bin ich das kleine Mädchen, die Jüngste, ich soll später mal ›gut‹ heiraten und so. Darüber habe ich gesprochen, ich meine, am Küchentisch der Schmidts wird über alles gesprochen. Und gestern Abend war Hendrik Müller bei uns, und das Thema kam drauf, und weißt du, was er gesagt hat?«
Marleen, keine Tränen mehr, schüttelte den Kopf.
«Der sagt: ›Ach Esmé, das macht doch überhaupt nichts, so ein bisschen männlicher Samen in dir drin‹, und die Jungs grinsen, und die Mädchen nicken wie bekloppt.«
Marleen:»Aber es macht was aus.«
Esme:»Es macht klar was aus. Es macht sogar in Kassel was aus. Ich meine, guck dir doch mal die Mädchen an, wie Brit oder so, die das nicht wollen oder irgendwie nicht hinkriegen, und alle reden hinter ihrem Rücken. Aber in Murcia erst, wenn ich das beichte, ich meine, wenn ich die Wahrheit sage, was die mit mir gemacht haben …«
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