Esmé hat sich gegen die Endbetonung entschieden und wird jetzt Esme genannt. Der Name steht ihr, zumal sie ihr Haar jetzt kürzer trägt, eine Annäherung an die Kontur Sophie Scholls, soweit das bei Locken möglich ist. Sie trägt eine moosgrüne Baumwollhose, deren Oberfläche so weich ist, dass man sieht, wer sie zuletzt berührt hat. Dazu eine aprikosenfarbene Wildlederjoppe aus Spanien und solides Schuhwerk. Sie sieht jetzt schmaler aus, wendig, jungenhaft. Esme bewegt sich schneller als Esmeralda, sie hat sich ein Rennrad geliehen. In der ganzen Stadt sieht man ihren Po in Bewegung.
Dies ist nicht Amerika: Es werden keine Königinnen gewählt, der Schönheit wegen oder der Popularität, und es gibt auch keine Faustkämpfe unter jungen Männern, jenes Aufschäumen von Testosteron und Adrenalin, das den Besiegten als Gedemütigten zurücklässt. Die Hierarchien der Hochschule, nahezu unsichtbar, sind nicht pyramidisch gezeichnet, sondern in Kreisen. Jungfräuliche Männer oder solche, deren Initiation unglücklich verlaufen ist, bewegen sich lange an der Peripherie. Was einen jeden retten kann bis an den äußeren Rand des inneren Kreises, ist eine sichtbare Fähigkeit, und sei es nur die, treffsicher Schriften bestimmen zu können. Eloquent soll man sein, aber nicht gelackt; man soll politisch durchblicken, aber nicht einer Gesinnung anheimfallen; man muss eine Zukunft haben, ohne Karriere machen zu wollen.
Eine Residenz am Bebelplatz, bei Müller oder bei den Schmidts, führt sicher in den inneren Kreis. Gerüchte gibt es viele, aber man fällt doch nicht drauf rein. Jüngere sehen Älteren dabei zu, wie sie Eingebungen haben; dann haben sie plötzlich auch welche. So wie man im Liebesbett eine Sprache schneller lernt, lernt man hier künstlerische Sensibilität. Paare trennen sich selten im Streit. Die Kreise wachsen. Wissen und Ahnen, erotische und fachliche Reputation verschränkt wie Yin und Yang. Geld spielt keine große Rolle. Die Kreise festigen sich von einem Semester zum anderen. Einige werden zu Vertrauten der Dozenten. Zum Glück kann man nicht ewig studieren, sonst wäre bald kein Platz mehr dort, wo sich die Talente tummeln. Wer nach Jahren zurückkehrt, als Professor zum Beispiel, würde sehen, wer wem in welcher Rolle nachgefolgt ist, als Könner oder Trickser, Vordenker oder Fürsprecher, Einheizer oder Guru. Jede Generation glaubt, die Rollen erfunden zu haben, in die sie schlüpft.
Die WGs rekrutieren ihre Neuen mit dem Elan der Snobs. Jeder kann sich bewerben, wer aber schließlich am Küchentisch sitzt, muss sich alle möglichen Fragen gefallen lassen. Sie sind fast unbeantwortbar, weil die Antworten offensichtlich sind: Der Neue muss alles können und alles wollen, sich der Gemeinschaft öffnen und mit ihr teilen. Aber es kommt nicht wirklich darauf an, was er sagt, sondern wie er es sagt. Esmeralda nehmen die Schmidts mit Kusshand. Aber als sie beschließen, das Fernsehzimmer hinter der Küche zu vermieten, weil die Kasse nicht mehr stimmt, kommt die Frage auf, ob man lieber einen Pendler will, eine Art Gast, oder ob der Platz hinter der Küche nicht doch vorgesehen wäre für die Seele des Betriebs, im Zweifelsfall eine Schöne als Köchin. Nicht, dass das jemand so sagt. Überhaupt ist die Belegung heikel, weil die sechs Zimmer immer nach Mann-Frau-Parität vergeben worden sind. Franziskus Maria wäre, allein vom Namen her, die unausweichliche Wahl. Tatsächlich stellt Franz sich vor, er erfüllt das Pendlerideal, wird Semesterferien in Bayern verbringen, kommt für nicht mehr als zwei Nächte aus Göttingen; sie befragen ihn mehr als eine Stunde lang, was für ihn spricht, dann hört er eine Woche nichts, und als er anruft, sagt ihm ein Mädchen, das selbst nicht dort wohnt, es glaube, das Zimmer sei vergeben.
Marleen begreift nicht, warum Franz sich bei den Schmidts beworben hat. Ach, sie würde ihn auch trösten, wenn es sein müsste, aber es muss nicht sein, denn Franz macht nicht die Schultern krumm und zieht den Kopf nicht ein und guckt nicht plötzlich an Leuten vorbei, nur weil es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Er bleibt der aufrechte, junge Mann mit dem forschen Schritt und den Augenfackeln, schwarzer Rollkragenpullover, Dufflecoat — das passt nicht zum Bebelplatz, niemals, nur dass er davon nichts weiß. Franz hat keine Angst vor Gören mit Dreadlocks und Palästinenserfeudel. Er scheint nicht zu merken, was die in ihm sehen, einen, der mal dringend einen durchziehen müsste, damit er auf die richtige Spur kommt. Oder Dorit, die jetzt bei Müller wohnt und in Typo aufgeholt hat, die hinter seinem Rücken raunt, und zwar so, dass Marleen es hört:»Bei so einem heißt es aufgepasst, der ist doch Opus dei.«
Marleen wird nicht mit der Herde dorthin traben, wo das Gras längst heruntergekaut ist. Sie will aber auch kein Sonderling sein. Das hat sie schon hinter sich, Neuss, der Schulhof:
«Der ihr Vater ist abgehaun in so’n Sexkloster in Indien …«
«Ach du Scheiße!«
«Und der ihre Mutter hat was mit dem Kaplan von Pius.«
«Oh Gott, dann musse aber woanders beichten.«
«Wenn die überhaupt richtig katholisch is’ …«
Was will er denn nur, der Franz, bei den anderen, die schlecht über ihn reden? Am besten, er hätte sie um das kleine Zimmer gebeten, das sie übrig hat. Sie selbst fragt ihn nicht, und auch sonst fragt sie nichts, was negativ beschieden werden könnte, sonst wäre ja sie die Bewerberin. Es muss von allein geschehen, vielleicht hilft das Grün in der Karlsaue oder das neue Semester, er wird sich am Ende doch entscheiden müssen, Göttingen oder Kassel. Nie nimmt er sie mit nach Göttingen, wo er mit drei anderen Historikern, die keine Namen zu haben scheinen, bei einer liebenswürdigen, alkoholischen Witwe unterm Dach haust. Und Marleen ist nicht sicher, ob es dort nicht auch ein Liebesleben gibt, ob Franz nicht genau und in letzter Konsequenz das tut, von dem er sagt, dass er es tue, nämlich alle Möglichkeiten abwägen, die eine gegen die andere, um herauszufinden, was die beste aller Methoden sei. Was zu nichts führt, und was zu was.
Viele konnten gar nicht nähen, oder falls sie es konnten, wollten sie nicht, so dass die Aufgabe an Esme und Bennie hängenblieb. Die Haustüren der beiden WGs waren in diesen Tagen nur angelehnt, weil es bei dem Besucherstrom nicht mehr lohnte, jedesmal einzeln zu öffnen. Wer Esme bei den Schmidts beschäftigt fand, probierte es bei Müller. Bennie, so anders als Esme, war konkret bis zur Kantigkeit, die Haut glänzend, die Brille fettig, die dünnen Haare rötlich. Beide konnten es wirklich, abmessen, zuschneiden, den Stoff durch die Maschine jagen. Bei Bennie aber musste man warten, sie nähte nur ein Kleid zur Zeit, während Esme von zwölf bis vier Maß nahm und dann loslegte, bis in die Nacht. Das schürte die Eifersucht von Jörg und Axel, die sich mit Esme in jenen frühen Apriltagen abwechselten; sie am liebsten miteinander geteilt hätten, aber so weit war es noch nicht.
Im Hausflur stand aufrecht ein gewaltiger Ballen billigsten Stoffs, der ein unruhiges Schwarz-Weiß-Muster zeigte, kein Glencheck, kein Zebra, kein Pepita, irgendetwas der vierten Art, das, wenn anprobiert von Dorit, Brit, Susanne, Esther, sie alle verwandelte in Kaufhausflittchen, Allerweltsmädchen, Weiber von der Stange. Als der erste Ballen zu Ende ging, wurde ein zweiter angeliefert. Nach vier Tagen beschloss Bennie, das nächste Kleid wäre ihr eigenes und dann Schluss. Esme hängte noch einen Tag dran, Glück für Marleen, die spät mitbekommen hatte, dass es in diesem Semester keinen Plakatkurs gab, stattdessen» Das Kleid«, und so bekam sie auch noch eins. Esme musste für Marleen die Zimmertür schließen, als sie Maß nahm.»Ach ja«, sagte Esme, deren Deutsch nicht mehr holperte, sondern floss,»du bist auch katholisch. Im Herzen.«
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