«Okay«, sagt Cristina.»Ich bin fertig. «Um Johanna zu gefallen, holt sie das kleine goldene Kreuz aus seinem Kästchen. Sie will die Kette öffnen und wendet sich, als es nicht gelingt, stumm zu Marleen, die den winzigen Riegel mit dem Nagel des linken Daumens zurückzieht, die Enden der Kette über dem Nacken der Schwester zusammenführt und den Verschluss einschnappen lässt. Johanna sieht mit hochgezogenen Augenbrauen zu, als bereitete Marleen die Schändung einer Hostie vor. Als die Älteste weg ist, schließt Cristina die Tür.
«Und?«
Um zwanzig vor besteigen sie das Fahrzeug, das sich selbst und die fünf Insassen anhebt, bevor es losrollt. Johanna fährt, weil sie seit kurzem den Führerschein hat oder mehr noch, weil ein Einsatz in St. Quirinus eine würdige Anführerin braucht. Auf dem Beifahrersitz Lore, die jeder Bewegung Johannas folgt, für alle Fälle. Auf dem Rücksitz Marleen und Cristina mit Linus in der Mitte. Er hat sein dunkelblondes Haar kurz schneiden lassen, mit einer verschwenderischen Locke auf der Stirn. Er trägt einen weißen Leinenanzug, unpassend zur Jahreszeit, aber passend in der Konfektion. Marleen glaubt, dass sie den Anzug kennt. Der ist doch von Papa. Aber sie fragt lieber nicht. Pubertierende Jungs sind wie Sprengstoff mit Lunte.
Das Auto wird beim Hafen abgestellt, wo es selbst an Heiligabend aus den Lebensmittelsilos stechend riecht. Die Gruppe betritt das Münster, als schon die Glocken läuten. Johanna geht durch die vollbesetzte Kirche bis zur zweiten Reihe voran, wo unbegreiflicherweise das Drittel einer Bank reserviert ist, nicht namentlich, aber Johanna scheint damit gerechnet zu haben. Von den drei Messdienern sind zwei ständig kurz vorm Feixen, der dritte durchtränkt von Frömmigkeit.
«Schlimm, nä?«, flüstert Cristina Marleen ins Ohr.
«Die Jungens? Unmöglich.«
«Es gibt da irgendwie Pläne, es heißt, die nehmen bald auch Mädchen.«
«Glaub’ ich nicht.«
«Aber du glaubst ja auch sonst nichts.«
Marleen macht sich ihre eigenen Gedanken, während der Pfarrer seine Marienbildchen abspult. Erst bei der Hälfte der Predigt merkt sie, dass er nicht über die Mutter des Jesuskindleins nachdenkt, sondern über dessen Vater. Der Pfarrer behauptet, im Haus des Glaubens sei der Vater immer nur Stellvertreter; auch Petrus, als gewissermaßen erster Papst, sei» eher ein berufener denn je ein tatsächlicher Vater gewesen«. Die Weihnachtserzählung mache wenig Aufhebens vom Vater, weil sie ihn verwechsle mit der Figur Josephs im Stall, eine Nebenrolle wie Ochs und Esel. Petrus, denkt Marleen. Ochs und Esel.
Sie bleibt auf der Bank sitzen, während der Rest der Familie vorn niederkniet. Auch Linus hat die Erstkommunion längst hinter sich, die Firmung ebenfalls, aber zu den anderen Messen der Weihnachtsfeiertage, in die Johanna ihre Familie führen möchte, kommt er nicht mit. Vielleicht, weil es ihm nicht so ernst ist oder weil er die Gelegenheit nutzen will, mit Marleen allein zu sein. Die mittlere Schwester ist zwar erst im Sommer fortgezogen, aber sie macht ihn staunen, eine aufregende Fremde. Zu zweit begehen sie die Pomona. Sie stehen vor dem Reihenhaus, der ersten Station der Familie Schuller in der damals entstehenden Siedlung.
«Hier haben wir mal gewohnt«, sagt Marleen, obwohl sie es selbst kaum glauben kann, wie man in einer solchen jämmerlichen Scheibe von einem Haus hat wohnen können zu sechst.
«Ich nicht«, antwortet Linus.
«Oh, doch. Erinnerst du dich an ein rotes Auto, ein italienisches, das ganz wahnsinnig röhrte?«
«Nur von Fotos.«
«Das war Papas Spielzeug. Damit hat er dich aus dem Krankenhaus abgeholt. Und Mama auch.«
«Mami«, sagt Linus.
Marleen stutzt einen Moment.
«Ja, Mami auch.«
Es sind neue Familien nachgezogen; die Namen an den Schellen der Reihenhäuser sagen ihnen nichts.
Sie marschieren ein Stück die Ringbebauung entlang, begehen über die schmaleren Wege den Kern der Siedlung und kehren dann nach Hause zurück. Sie bemerken — und sie bemerken es gemeinsam und erst jetzt —, dass weiße Häuser auf der Pomona rar sind, und ein Haus auf Stelzen, wie ihres, gibt es nicht noch einmal.
«Wer hat sich das eigentlich ausgedacht?«, fragt Linus.
«Der Architekt.«
«Ein Architekt? Und warum so ein … so ein irres Ding?«
Marleen könnte jetzt sagen, dass sie das auch nicht weiß. Aber sie will ihren kleinen Bruder nicht enttäuschen.
«Das war modern«, sagt sie.
«Modern. War Papa früher modern?«, fragt Linus.
«So modern wie ein weißer Anzug«, antwortet sie. Er grinst.
Als sie wieder im Haus sind, Marleen sitzt auf dem Klo, läutet das Telefon. Linus geht ran. Im Hausflur wirkt seine Stimme doppelt so laut. Marleen hört mit:
«Ja, ich bin’s, Linus. — Im Moment keiner. — Erst Quirin, dann hat Mami gekocht. — Eigentlich schon, ja. — Nein, zur Waldorfschule. — Halbe Stunde. — Klar, mach’ ich. — Tschö!«Beim Wiedersehen in der Küche mustert Marleen ihn eindringlich. Linus dreht sich die Locke, er schaut weg. Sie will ihn gerade zur Rede stellen, als die Haustür aufgeht, dann kommen die Stimmen näher, Mamas Zedernholzstimme und Cristinas säuselnde Mädchenlage und Johannas gedämpftes Blech, und als sie dann alle da sind und über das Weihnachtsgebäck herfallen und alle schnattern zugleich, redet auch Marleen drauflos, irgendwas, nur um ihre Tonlage drunterzumischen, die vierte Stimme. Es kommt Marleen so vor, als wäre die Pomona 133 dafür gebaut worden, Stimmen aufzufangen, sie größer zu machen und übereinanderzulegen, ein an- und abschwellender weiblicher Chor, und sie fragt sich, ob Linus, der wenig spricht und leise, ob er das hört. Ob er weiß, was er hört, die Glocken seiner Kindheit, ihren Ausklang.
Für den Silvesterabend besteht Johanna auf der Mitternachtsmesse. Das hätte sie wohl gern, dass Marleen eine Messe absitzt, die erste Stunde ihres zwanzigsten Geburtstags. Ganz andere Pläne hat die. Weil aber Cristina ohne Messe nicht will oder kann, sitzt Marleen mit Cristina um sechs in St. Pius, und erst danach nehmen sie die S-Bahn über den Rhein nach Düsseldorf.»Es gibt da ein Lokal, in dem war ich mal mit Papa«, sagt Marleen zu ihrer Schwester, aber dann, in der Altstadt, kommt ihr alles bekannt, wenn nicht vertraut vor, unmöglich, einen Weg wiederzufinden, den man vor Jahren nur mitgegangen ist, als Kind.
Nie wird sie vergessen, wie sich das anfühlt, die schmalen Gassen, aufgeklappt wie Puppenstuben, die altertümlichen Schilder, die Kakophonie von rheinischem Gesang und Freejazz aus den Kellergewölben, die steilen Gläser, dunkel gefüllt, darunter runde Pappen auf speckig glänzenden, hölzernen Tischen. Will man keinen Pfennig ausgeben auf einer Tour durch die Altstadt, sind Marleen und Cristina das ideale Paar, denn in jedem Lokal sitzen Männer mit Bärten und dicken Brillen, Männer mit Bäuchen und Glatzen, die den Tresen besser kennen als ihr eigenes Bett, und macht auch mehr Vergnügen:
«Na, ihr zwei, zwei Alt?«
Und dafür müssen sie gar nichts tun. Sie müssen nicht sagen, dass sie aus Neuss sind, und sich deshalb auch nicht anhören, das sei gar nicht so schlimm, und sie werden auch nicht angestarrt oder gar begrapscht. Sie trinken einfach ihr Alt, sie schmücken den Tresen, Cristina als Mädchenkopf aus einem Botticelli; Marleen als lebendig gewordene Riemenschneiderfigur. Sie winken, wenn sie gehen, schon ein Danke wäre zu viel, und die Herren rufen» Tschö«. In der nächsten Stube das Gleiche von vorn.
Irgendwann, da laufen sie schon im Kreis, aber sie laufen nicht wirklich, sie tanzen, da hält Marleen nichts mehr, da plappert sie drauflos. Das erste Bild will ihr nicht gelingen, da wirkt ihr Franz wie ein zünftiger Kerl aus Bayern, nee, eigentlich aus Tirol, was Cristina sogleich ausschmückt:
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