«… ein Pferd«, denkt sie, aber verbietet es sich sogleich, will es sich nicht vorgestellt haben. Sie wundert sich am Morgen, allein in der grünen Küche, über den Traum,
«… ein Pferd, ganz allein und nackt in einer trockenen Landschaft, von hinten gesehen, das Fell glänzend, wie es sich entfernt, aber auch als es ganz klein ist, am Horizont, kann man seine Proportionen noch erkennen, seine Bewegung …«
Cristina würde sie davon erzählen, vielleicht, und Cristina würde lachen und fragen,
«Wie — ein Pferd — nackt?!«
Marleen, mit Gänsehaut:»Na eben unbeschlagen. Man hört es nicht. Und kein Sattel und kein Zaumzeug …«
«Du bist also nicht auf ihm geritten?«
Und weil es Cristina wäre, würde sie zugeben, dass das Pferd im Traum später kein Pferd mehr war. Es war verschwunden am Horizont und hat sich dann — unlogisch, klar — verwandelt, und die Frage, ob sie auf ihm» geritten «wäre, war ganz klar zu beantworten:»Doch. «Bei der Gelegenheit würde sie die Schwester fragen,
«Sag mal, wie war das eigentlich, als wir angefangen haben, uns über Jungs Gedanken zu machen …«
«Gedanken!«
«Haben wir uns das eigentlich so richtig vorgestellt, mit allen Details, knallhart …«
«Knallhart was?«
«Na, du weißt schon. «An diesem Morgen, lautlos mit sich selbst sprechend, erscheint Marleen das schale Grün ihrer Frühstücksküche wie eine blühende Wiese. Dieses Franzpferd hat sich vor alles andere geschoben, vor die Erinnerung und die Wirklichkeit, vor die kümmerlichen Erfahrungen, die man gemacht hat, weil es erwartet wurde und man hoffte, sich hinterher besser zu fühlen oder jedenfalls nicht mehr ganz so dumm. Ein gewisser Vorteil jetzt, dass es darum nicht mehr geht. Dein Leib ist der Tempel Gottes, oder wie hieß das noch mal.
Es sind zwei Welten, die Nacht und der Tag, und der Kanal, der sie verbindet, obliegt der Obhut eines umsichtigen Schleusenwärters. Sonst müsste doch Marleen, als sie Franziskus wiedersieht, ganz schrecklich erröten, was nicht der Fall ist. Sie sitzen in der zur Karlsaue hin verglasten Mensa, die abgegessenen Teller auf ihren Tabletts. Hier tickt sie, die Uhr der Freundschaft, denn alle springen immer gleich auf, wenn sie gegessen haben. Die beiden sitzen über Eck, die Tabletts so weit fortgeschoben, dass sie sich berühren, und haben ihre Köpfe spiegelbildlich in einer Hand versenkt. Sie flüstern fast, obwohl es laut ist. Es fällt Marleen nicht leicht, mit ihm zu sprechen, weil er jedes Wort auf die Goldwaage legt. Und was er wiegt, ist Blech. Andererseits ist Franziskus der erste Mann — der erste Mann im gleichen Alter —, der ihr wirklich zuhört. Der nicht auf das antwortet, von dem er glaubt, dass sie es gesagt habe, sondern auf das, was sie gesagt hat.»Du suchst nach einem Prinzip«, hat Marleen gesagt. Er überlegt.
«Sofern du nicht irgendeins meinst, das wäre ja leicht zu haben. So was wie ›Gott ist tot‹, oder ›Wir müssen die Welt nicht verstehen, sondern sie verändern‹. Behavioristisch, ›Man muss seine Grenzen kennen.‹ Oder: ›Man muss seine Grenzen kennenlernen‹, das wäre dann das Gegenteil.«
«Das Gegenteil von was?«
«Seine Grenzen zu kennen.«
Marleen lacht und beißt sich dabei auf die Unterlippe.
«Also nicht irgendeins …«Sie vermeidet das Wort» Prinzip«, um zu prüfen, ob er wirklich bei der Sache ist, so wie seine Augen, die nicht durch sie hindurchsehen und auch nicht gaffen und vielleicht nicht einmal etwas wissen von der ihnen eigenen Güte.
«Nicht ein Prinzip, Marleen. Es geht um die Methode«, sagt er wieder. Er spricht jede Silbe, Me-to-dä, ohne sich dabei anzustrengen, sein» r «hat etwas von einer stumpfen Kante, einer Naht. Sie könnte ihn jetzt fragen, wo er herkommt, aber genauso gut könnte sie ihm sagen, wie sehr sein dunkles Haar ihr gefällt. Tut sie aber nicht.
Franz holt weit aus.»In Göttingen gibt es einen Dozenten, der mit uns Quellen liest. Das ist neu. Früher wurde die Geschichte von Professoren ausgelegt, und die Quellen waren etwas für … Doktoranden mindestens, glaube ich. Wir lesen im handgeschriebenen Protokoll eines Zunftmeisters, vor dem Buchdruck. Aber was heißt schon lesen. Man muss das erst einmal entziffern, also transkribieren, und das Deutsche vom Lateinischen trennen. Das Lateinische ist leichter in heutiges Deutsch zu übertragen als altes Deutsch, das nicht mehr Mittelhochdeutsch ist, aber auch noch nicht Hochdeutsch, ein Kauderwelsch. Wir sind nur zu fünft. Die anderen kämpfen mit den Buchstaben, mir fällt das Transkribieren leicht. Wenn wir wissen, was da steht — aber das heißt erst mal nur, dass wir es mehr oder weniger in heutiger Sprache wiedergeben können —, sind wir noch lange nicht am Ziel. Die neue Geschichtstheorie in Göttingen geht davon aus, dass jeder Text auf Auslassungen beruht, zum Beispiel, weil ein Schreiber die Zensur fürchten musste. Halb steht es also da, halb nicht. ›Nicht buchstäblich denken‹, ermahnt uns der Dozent immer wieder.«
Marleen denkt, jetzt ist er wieder bei dem Bibelvergleich. Er vergleicht Methoden, die unterschiedliche Zwecke haben. Aber es genügt ihr, für den Moment zu verstehen, was er meint.
«Also das Gegenteil von Weingart«, sagt sie, ihm die Brücke bauend.
«Das denke ich auch. «Selbstvergessen, bewegt von seinem Bericht und wie ihm der gelungen ist, schiebt er mit dem Ellbogen sein Tablett krachend in das andere. Er entschuldigt sich nicht, sondern betrachtet geistesabwesend die abgegessenen Teller und ordnet ihr Besteck zu seinem, dann das Geschirr, die Milchpackung mit dem Strohhalm; er stapelt das volle Tablett auf das leere.
Seltsam, dass er seine typografischen Blätter weggibt. Ob sie es ihm nicht wert sind, aufgehoben zu werden, oder sind es Geschenke? Ende November jedenfalls besitzt Marleen drei davon, die Miniatur, das Monument und» in Perspektive«. Nur Franz ist darauf gekommen, den Buchstaben nicht von Hand darzustellen, sondern die» Perspektive «in der Dunkelkammer dreidimensional zu erzeugen: Sein» m «hat er negativ auf Folie kopiert, diese in die Negativbühne des Vergrößerers geschoben. Zunächst hatte er das Fotopapier im gelbgrünen Licht des Labors zu einem Bogen gespannt, zu einem Würfel gefaltet und so weiter und unter dem Licht der Projektion überprüft, wie der Buchstabe sich auf dem Objekt darstellte. Schließlich entschied er sich für ein Rechteck mit ausgestellten Seitenflächen, wie die obere Hälfte eines Sargs. Das» m «hatte, in seiner Projektion, einen schweren Rückenpanzer bekommen, seine Beinchen aber schwebten knapp über dem Boden, nicht ganz scharf, was lustig aussah. Licht aus, Rotfilter weg, belichtet. Das Objekt auseinandergefaltet, das Fotopapier entwickelt, gestoppt, fixiert, gewässert und getrocknet, das Typo-Foto bei Tageslicht wieder zum Objekt gefaltet. Sogar Weingart war perplex.
Marleen hat ihre Blätter und die von Franz, auch sein» m«»in Perspektive«, im kleinen, leeren Zimmer an die Wand genagelt — me, me, me —, die Bildergruppe von links und rechts beleuchtet, und am Abend sitzt sie davor, allein, und versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Denn so viel ist klar, Weingart hat sie und die anderen an der richtigen Stelle gepackt, wie man Welpen im Genick nimmt und sie dahin bugsiert, wo es Futter gibt. Merkwürdig jedoch: Kaum jemand nimmt sich Zeit, den Bleisatz kennenzulernen, hundertsechzig Einzelstücke im Setzkasten, die man kennen muss, nicht nur die Buchstaben und Satzzeichen, das Blindmaterial auch. Man hält den Winkelhaken freischwebend. Darin werden Zeilen aufgebaut, Letter für Letter, Zeilen gestapelt, bis sie ganze Seiten ergeben, Letterntafeln, die verschnürt werden. Es ist so, als müsste man mit den seitenverkehrten Buchstaben ein zweites Mal lesen lernen. Wie der Anfang am Klavier. Die Anleitung besagt, linke Hand dies und rechte jenes, aber dann setzt die Anleitung plötzlich aus, und man muss selber wissen, was man mit seinen Händen macht. Der Vergleich stammt von Esmeralda, der Einzigen neben Marleen, die versucht, den Setzkasten zu bespielen. Esmeralda hat sich eine Episode aus Platero und ich vorgenommen. Marleen glaubt, die Geschichte vom Esel sei leichter zu meistern als ihre Seite aus 1984 , wegen der spanischen Kleinschreibung. Diese gewisse Unverschämtheit von Majuskeln, sich auf der Seite breit zu machen wie Könige, muss verhindert werden durch Spationierung. Jeder Zwischenraum, selbst der geringste, wird durch ein Scheibchen dargestellt, das man dem Setzkasten entnimmt, und, wenn doch nicht verwendet, in das richtige Fach zurücklegen muss, weil man es sonst nicht mehr wiederfindet. Die jungen Frauen sitzen nebeneinander, damit sie in denselben Kasten greifen, auf drehbaren Hockern, um sich schnell bewegen zu können. Esmeraldas Text, weil sie links sitzt, wächst in Richtung von Marleen und Marleens Text in Richtung Tischkante. Es ist gut, nicht allein zu sein dabei, weil die Detailarbeit einen ins Grübeln bringt, aber Grübeln hilft nicht weiter, die Strecke zählt, das Maß des Ganzen, und das Ganze ist das Blatt, auf dem der Text am Ende schwarz und seitenrichtig erscheint, wenn er gedruckt wird. Erst dann sieht man die Fehler. Esmeralda findet das Wort» Fehler «unangemessen,»a-uto-ritarr«, sie nennt korrekturwürdige Stellen» Ausnahmen«, das Wort hat sie aus dem Wörterbuch. Für Marleen bleiben Fehler Fehler.
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