Sie traut sich nicht in die Nähe ihres Hauses, und so steht sie viel zu früh vor der Kinderkrippe. Die Fenster in den Häusern sind noch dunkel, die Straßen leer. Als die ersten Erzieherinnen kommen, versteckt sie sich, und es scheinen noch einmal Jahrhunderte zu vergehen, ehe sie Alex mit ihrem Bruder Elvis entdeckt. Sie wartet, bis Alex mit dem Kinderwagen vor ihr stehen bleibt.
Was machst du denn hier? sagt er und entblößt seine Zähne zu einem Schrecklächeln.
Elvis erkennt sie, das sieht sie genau, doch als sie ihn aus dem Wagen nimmt, beginnt er zu weinen. Sie trägt ihn auf dem Arm umher, bedeckt sein Gesicht mit Küssen.
Was ist los? sagt Alex und blinzelt sie an.
Wie soll sie ihm erklären, was er ohnehin nicht begreifen wird, was nicht mal sie versteht, sie kann ihm ja nicht sagen: Ich liebe Elvis wie niemanden sonst auf der Welt, als wäre er mein Kind; sprachlos zuckt sie mit den Schultern.
Elvis weint, er kommt ihr größer vor, schwerer in ihren Armen, aus denen er sich befreien will, er strampelt wild, weint lauter, brüllt; sie versucht ihn zu beruhigen, murmelt tröstende Worte, ich bin’s, du kennst mich doch.
Inzwischen umstehen sie Leute, Mütter werfen ihr komische Blicke zu, eine Erzieherin will ihr Elvis wegnehmen, sie spürt Hitze von allen Seiten auf sich eindringen, die Knie werden ihr weich. Elvis stemmt laut schreiend Hände und Füße gegen sie, sie kann ihn kaum noch halten, alles kommt ihr unwirklich vor, die vielen Gesichter um sie herum wie eine einzige verschwommene Fratze, die Stimmen überschlagen sich, und dann lässt sie sich Elvis aus den Armen nehmen. Sie steht da und versucht sich zu erklären, doch sie weiß nicht, was sie sagen soll.
Die Polizisten führen sie ohne viel Umstände zum Wagen, und als sie einsteigt, erhascht sie einen Blick auf Alex’ Gesicht, eine Grimasse aus Angst und Verwunderung, er hat den Mund aufgerissen, als wolle er den Himmel verschlucken.
Auf dem Revier wird sie verhört. Sie antwortet schnell, abgehackt, bekommt kaum Luft: Sie wollte doch nur ihren Bruder sehen, und sie versteht nicht, was daran strafbar sein soll.
Sie wird mit dem Auto in die Nebelgasse gebracht, in ein Durchgangsheim für jugendliche Straftäter.
Eine dicke Frau nimmt sie in Empfang, gibt dem Polizisten eine Unterschrift, als wäre sie ein Paket, das abgeliefert wird. Die Frau sitzt ihr gegenüber, starrt sie stirnrunzelnd an, ihre Fragen wirken gelangweilt, und sie weiß nichts darauf zu antworten. Sie weiß nicht, was sie verbrochen haben soll, versteht ihre Schuld nicht, ist unfähig, etwas Böses in ihrem Handeln zu entdecken. Abermals versucht sie sich zu erklären, obwohl es ihr peinlich ist, von ihrer Sehnsucht zu sprechen.
Die Frau überfliegt die Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch liegen. Du bist kein unbeschriebenes Blatt, sagt sie, die Republikfahndungen nach dir kosten den Staat allerhand Geld, und dazu noch Diebstahl und Einbruch.
Sie beharrt darauf, dass es diesmal anders ist, und erwähnt, dass sie im Kinderheim auf der Liste der positiven Kinder steht.
Das scheint zu wirken, die Dicke verlässt den Raum, verspricht mit dem Heimleiter zu telefonieren.
Sie spürt Erleichterung, betrachtet die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, das Gesicht von Honecker im Bilderrahmen, seinem allmächtigen Blick kann sie in keinem Winkel des Zimmers entgehen.
Nach einer Weile kommt die Frau zurück, in ihrem Lachen schwingt Verärgerung mit. Man lernt nie aus, sagt sie, du bist doch eine gute Lügnerin.
Sie glaubt, sich verhört zu haben.
Ich zieh mir die Hose doch nicht mit der Kneifzange an, fährt die Dicke fort, dein Heimleiter sagt, ich soll dir kein Wort glauben, du seist ein besonders tückisches Exemplar, ein ausgekochtes Luder, eine Schande für das Heim.
Eine Schande für das Heim? Sie schluckt schwer, versteht gar nichts mehr.
Das muss eine Verwechslung sein, sagt sie.
Ach ja? Die Dicke schaut in die Luft und ist keiner Erklärung mehr zugänglich, sie wedelt mit den Händen, als wolle sie Mücken verscheuchen, steht wie eine Wand vor ihr — eine Wand aus Fett, denkt sie wütend, und die Ungerechtigkeit schnürt ihr die Luft ab.
Die dicke Frau scheint ebenfalls wütend zu sein. Wir werden ja sehen, sagt sie, in einem Ton, als sei sie gekränkt, enttäuscht worden und als habe sie deshalb ein Recht auf ihre Wut.
Sie wird von der Dicken unsanft am Ellbogen die Treppe hochgeführt, an Jugendlichen vorbei, die sie neugierig anstarren. Sie gehen einen Gang entlang, dann schließt die Dicke eine Tür auf und bedeutet ihr einzutreten. Sie hört, wie die Tür hinter ihr zugeschlagen und abgeschlossen wird, als sie sich umdreht, ist sie allein. Die Zelle ist düster, die schmutzige Glasscheibe vergittert, an der Wand steht eine Pritsche, daneben ein Eimer zum Pissen. Sie stellt sich vor das geschlossene Fenster, sieht durch die Gitterstäbe auf ein flaches Dach, an dessen Seiten in der Sonne blinkende Glasscherben befestigt sind. Wieso ist sie hier? Warum darf sie ihren Bruder Elvis nicht sehen? Sie beginnt zu heulen, heult laut und hemmungslos. Was hat sie verbrochen? In ihren Ohren rauscht es. Wofür wird sie bestraft?
Sie hört ein Schaben, Wispern, Lachen, das Guckloch wird an der Außentür geöffnet, doch als sie zur Tür geht, kann sie niemanden erkennen. Der Tränenschleier verstellt ihr den Blick, und die Perspektive durch das Glasloch ist verwirrend. Sie setzt sich auf das Bett, spürt einen ekligen Geschmack im Mund und einen nagenden Hunger. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln liegt in der Luft, sie fühlt sich schwindlig. Sie will hier nicht sein.
Als sie ins Kinderheim zurückkommt, steht ihr Name auf der Liste der negativen Kinder. Am ersten Tag nach den Ferien nimmt sich Herr Nissen Zeit, sie vorzuführen, schildert beim Appell ausführlich ihre Vergehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hört sie sich alles an, während sie mit der Zunge die übelsten Schimpfwör-ter an ihren Gaumen schreibt: Arschkrampe, Bazille, Asselarsch.
Ungerecht behandelt zu werden ist ihr vertraut, doch dieser Zorn darüber ist für sie neu. Die Einsicht, dass sie nicht liebenswert ist, erfüllt sie nun mit trotziger Aufsässigkeit.
Als August Kreische das nächste Mal ihren Nachtisch einfordert, ist sie fest entschlossen, sich das nicht gefallen zu lassen. Ruhig sieht sie ihm entgegen, duckt sich weg unter seiner Faust, nutzt seine Überraschung und springt ihn an. Sie reißt an seinen Haaren, kratzt, spuckt, pariert seine Schläge. Ihr Atem geht wild, sie kann gar nicht mehr aufhören, um sich zu schlagen. Sie ist schneller, wendiger als der Fettsack, und sie ist böse.
Ihr Ansehen bei den Mädchen ist gestiegen, und sie entdeckt, dass sie andere zum Lachen bringen kann, sie erfindet ständig neuen Unsinn. Sie parodiert die Schwächen der Erzieherinnen, macht den Heimleiter nach, seine Angewohnheit, die Augen leicht nach oben zu rollen, oder seinen steifbeinigen Watschelgang. Sie beendet seine langsamen Sätze, die manchmal in der Luft hängen bleiben, setzt unter dem Gekicher der Mädchen die irrsinnigsten Satzbrocken in die Lücken. Wir alle haben das Ziel, sagt er beispielsweise, und sie fügt hinzu: eine Gemeinschaft von Idioten aufzubauen.
Die Mädchen wollen ihre Geheimnisse mit ihr teilen; es freut sie, und gleichzeitig ist sie eingeschüchtert durch das Vertrauen, das die Mädchen ihr plötzlich entgegenbringen. Als sie von sich erzählen soll, findet sie zuerst keine Worte, doch dann denkt sie sich Geschichten aus, erzählt vom einem aus dem Irrenhaus entflohenen Verrückten, der sie verschleppt und tagelang in einer Höhle gefangen gehalten hat. Die entsetzten Blicke ihrer Zuhörerinnen empfindet sie wie einen Ritterschlag. Darauf bedacht, das Entsetzen in den Gesichtern zu halten, lässt sie sich bereitwillig ausfragen, schildert furchterregende Details. Als sie sieht, dass die Mädchen ihr glauben, sind die Geschichten auch für sie wahr. Die Jungs beäugen sie misstrauisch, und obwohl sie versucht, so finster auszuschauen, als würde sie ihren Tod planen, wünscht sie sich, die Jungs würden sie anders ansehen.
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