Angelika Klüssendorf
Das Mädchen
Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen und schauen nach oben. Schwefelgelb brennt die Sonne, und es regnet Scheiße, doch vom Himmel fällt sie nicht. Der Briefträger entdeckt zuerst, woher sie kommt, und alle folgen mit überraschten und angeekelten Blicken seinem Zeigefinger, der auf ein Fenster im dritten Stock eines Mietshauses deutet. Das Haus unterscheidet sich nicht von den anderen Häusern in der Straße, Rußflecke, Einschusslöcher aus dem Krieg, abblätternder Putz. Im offenen Fenster ist der Kopf eines Mädchens zu sehen, ein dünner, weit ausholender Arm, und schon fliegt der nächste Batzen. Die Leute stellen sich in die Hauseingänge und verfolgen das Geschehen. Die junge Frau hält den beschmutzten Strohhut weit von sich, Rufe nach dem Abschnittsbevollmächtigten werden laut, der Briefträger springt zur Seite, als ein Stück Scheiße direkt vor seine Füße fällt. Dann schlägt das Fenster mit einem lauten Krachen zu — ein Wunder, dass die Scheibe nicht zerbricht. Nach einer Weile ziehen die Leute ab, gehen ihrer Wege.
Das war der Angriff der Stinktiere, denkt sie, im Schatten der Gardine stehend. In der Ferne heult ein Motor auf, es ist heiß und stickig, schnell hat sich die Langeweile wieder im Zimmer ausgebreitet, wie ein Gas, das ihr den Atem nimmt. Sie spürt ein Klopfen hinter ihren Schläfen, geht in die Küche, wäscht sich die Hände und hält den Mund unter den Wasserhahn. Das Mädche ist zwölf Jahre alt, ihr Bruder Alex sechs, seit Tagen sind sie in der Wohnung eingeschlossen. Die Toiletten sind in diesen Mietshäusern immer ein halbes Stockwerk tiefer, so hat sich eine Menge Scheiße im Eimer angesammelt.
Alex lässt seine Spielzeugautos über das schräg an die Wand gestellte Bügelbrett in einen Schuhkarton fahren. Sie hat Lust, ihren Bruder zu schlagen. Stundenlang sitzt er schon so da, starrt nur auf seine Autos und macht brummende Geräusche. Sie nimmt ein Auto und wirft es von einer Hand in die andere — keine Reaktion. Sie holt aus, und endlich: Er zuckt zusammen und schaut zu ihr hoch.
Komm spielen, sagt sie.
Er brabbelt den üblichen Unsinn — will nicht, lass mich in Ruhe —, bleibt regungslos sitzen.
Komm schon, sagt sie, und diesmal klingt ihre Stimme so, dass er gehorcht.
Er folgt ihr in das Schlafzimmer der Mutter. Sie zieht die Gardinen zurück. Gegenüber ist eine kleine Werkzeugfabrik. Bald werden die Männer Pause haben. Sie zieht sich aus und sucht in dem Schrank der Mutter nach Unterwäsche, bindet sich einen Büstenhalter über die flache Brust, schlüpft in ein rotes Spitzenhöschen und zurrt den Gummibund so fest, dass es ihr nicht mehr über die Hüftknochen rutscht. Mit dem Stummel eines Lippenstifts bemalt sie sich den Mund. Sie nimmt die Stöckelschuhe der Mutter, klettert auf den Tisch vor dem offenen Fenster und steigt in die Schuhe. Mit einer Hand in der Taille schaut sie zur Fabrik rüber. Nach einer Weile nimmt sie die Hand runter und steht einfach nur da. Sobald die Arbeiter an den Fenstern der Fabrik erscheinen, beginnt sie mit einem ernsten Lächeln ihre Hüften zu drehen, wie sie es im Fernsehen gesehen hat. Sie weist ihren Bruder an, laut in die Hände zu klatschen, dreht sich schneller, doch die Männer glotzen nur und bleiben stumm. Als sie sich vor ein paar Tagen in einem ähnlichen Aufzug am Fenster gezeigt hat, haben sie ihr unter lautem Gejohle applaudiert und Bravo gerufen. Sie bleibt kurz stehen, reckt den Hintern in die Luft.
Schäm dich, hört sie einen Mann rufen. Die Sonne blendet sie, sie sieht den Rufer nicht, hat keine Ahnung, ob er alt oder jung ist, ob er es ernst meint. Scham, das fühlt sie genau, ist aufregender als Langeweile. Sie verbindet mit diesem Wort einen leisen Ekel in der Stimme der Mutter. Sie bewegt sich weiter, mit ausgebreiteten Armen. Auch als die Männer längst wieder arbeiten, tanzt sie noch und macht ein Gesicht, als würde sie für sich ganz allein tanzen. Dann klettert sie erhitzt vom Tisch, wirft die roten Lackschuhe in eine Ecke.
Alex sitzt auf dem Fußboden und zerreißt eine Zeitung in kleine Schnipsel. Sie lächelt und sagt, jetzt bist du dran. Ihr Bruder will sich nicht von ihr verkleiden lassen. Sie denkt daran, wie die Mutter mit einem grauen Ledergürtel auf sie einprügelt und hinterher völlig außer Atem ist. Sie zielt mit ihrem Finger auf die Stirn ihres Bruders, peng, schreit sie, und noch einmal, peng, peng, peng, dann klopft sie an seine Stirn, wie man an eine Tür klopft. Los, steh auf, sagt sie, wir müssen dich schön machen. Mit den Resten des Lippenstifts malt sie ihm kreisrunde Flecken auf die Wangen, dann beschmiert sie seine Lippen. Als er sich zu wehren versucht, knallt sie ihm eine. Sie sieht in seinen Augen die gleiche Angst wie ihre eigene, und das macht sie wütend. Sei bloß ruhig, faucht sie, obwohl er stumm ist wie ein Fisch. Willenlos lässt er sich von ihr ausziehen, doch als sie versucht, ihm den Büstenhalter am Rücken zuzuknoten, merkt sie selbst, dass es lächerlich aussieht, Alex ist noch magerer als sie. Sie hört ihren Magen knurren und holt aus der Speisekammer das letzte Zwiebackpäckchen. Sie tunkt einen Zwieback in das Senfglas, und während sie kaut, spürt sie, wie sich die Schärfe wohltuend hinter ihrer Stirn ausbreitet.
Sie weiß nicht, wie spät es ist, die Stunden ziehen sich wie Wolkenketten, die am Horizont verschwinden. Sie betrachtet ihren Bruder. Alex mit seinen langen blonden Locken ist der Liebling der Mutter. Aber das bedeutet nicht viel, denn auch er kann einfach so in Ungnade fallen, ein böses Kind sein, ein verweichlichter Bastard, der bestraft werden muss. Er sitzt wieder auf dem Boden, umklammert seine Beine, schaukelt hin und her. Als sie den Schlüssel im Schloss hören, halten sie den Atem an. Sofort sieht sie die Wohnung mit den Augen der Mutter. Sie haben alles verkommen lassen, ein Zimmer ist schmutziger als das andere. Die Mutter geht langsam an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen.
Das Herz pocht ihr den Hals herauf, sie schließt die Augen, eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr.
In ihrem Zeugnis steht, dass ihre guten geistigen Fähigkeiten ungenutzt bleiben. Sie hat immer denselben Tagtraum: In der Nachkriegszeit bringt sie sich und ihren Bruder als Meisterdiebin und Schwarzmarktkönigin durch die Hungersnot. Im Wald baut sie ein Haus aus Steinen oder aus Holz, mit Kamin oder Ofen — die Vorstellungen wechseln, sie richtet es vollständig ein, und die Vorratskammer ist mit den wunderbarsten Speisen gefüllt, im Garten hat sie Gemüse angepflanzt, abends sitzt sie mit ihrem Bruder an einem Tisch, sie essen Kartoffeln, die frisch aus der Erde kommen.
In den Schulpausen stellt sie sich zu den flüsternden, kichernden Mädchen und tut so, als würde sie dazugehören. Seit ein paar Tagen wird in den Pausen ein Lied aus dem Westen gesungen:»Am Tag, als Conny Kramer starb«— die Mädchen können den Text auswendig und singen die Strophen immer wieder aufs Neue ergriffen. Sie imitiert die Gesten der anderen Mädchen und versucht sich beim Singen in deren Pathos hineinzusteigern, versucht ein genauso durchgedrehtes Gesicht wie sie zu machen.
Es kommt vor, dass sie von eifrigen Lehrern zum Sozialobjekt erklärt wird und eine der besseren Schülerinnen die Patenschaft für sie übernimmt. Sie muss ihr dann die Hausaufgaben vorzeigen, wohlmeinende Worte erdulden, sich von ihrer Wichtigtuerei beleidigen lassen.
Einmal wird sie von einem Mädchen, das die Patenschaft für sie übernommen hat, nach Hause eingeladen. Während sie Katrins Mutter begrüßt, starrt sie gebannt auf ihre großen Nasenlöcher, die sie an die Nüstern eines Pferdes erinnern. In Katrins Zimmer verbirgt sie ihren Neid hinter einem verlegenen Grinsen und betrachtet aufmerksam den hübsch angeordneten Mädchenkrimskrams in den Regalen. Sie erklärt sich bereit,»Der Prinz und die Prinzessin heiraten «zu spielen, aber sie verlangt dafür ein Geschenk. Katrin reicht ihr ein blaues Tuch, das mit silbernen Sternen bestickt ist. Das ist für den Prinz, sagt Katrin und wirft sich selbst einen goldenen Umhang über die Schultern.
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