Schenkst du es mir? Sie läuft ein paar Schritte, lässt das blaue Sternentuch durch die Luft wehen.
Warum? sagt Katrin und schaut sie verblüfft an.
Darum, sagt sie.
Das erlaubt meine Mutter nicht.
Diese Antwort birgt für sie einen Funken Hoffnung. Deine Mutter muss es nicht erfahren, sie versucht ihre Stimme verschwörerisch klingen zu lassen.
Katrin überlegt eine Weile, dann schüttelt sie den Kopf.
Sie verlegt sich aufs Betteln, schenk es mir, sagt sie, ich muss es haben. Sie wirbelt umher, springt aufs Bett, über den Teppich und ruft: Schenk es mir, bitte, bitte, schenk es mir, sie schwenkt das Tuch wie eine Fahne. Dann jagen sie einander durchs Zimmer, lachen lauthals und kreischen. Sie findet sich damit ab, dass sie ohne das Sternentuch nach Hause gehen wird. Als Katrins Mutter die Tür öffnet, liegen sie mit erhitzten Gesichtern auf dem Fußboden und imitieren Tierstimmen, sie heult laut wie ein Wolf. Katrins Mutter betrachtet sie missbilligend und gibt ihrer Tochter zu verstehen, dass es Zeit ist, den Besuch nach Hause zu schicken. Katrin gehorcht sofort und bringt sie zur Tür.
Nachdem sie ihren Bruder vom Kindergarten abgeholt hat, will sie noch etwas herausschinden aus diesem Tag. Sie beschließt, die Reaktionsschnelligkeit der Autofahrer zu testen — ihr Lieblingsspiel, das sie sich selbst ausgedacht hat. Sie steht am Bordstein, und kurz bevor ein Auto sich auf ihrer Höhe befindet, rennt sie blitzschnell über die Straße. Bislang hat sich Alex geweigert, mitzuspielen, doch heute folgt er ihrem Beispiel und rast wie sie über die Straße, die Bremsen quietschen, und ihre Herzen hämmern.
Sie sollen ihre Mutter in die Poliklinik begleiten. Die Mutter trägt ein schulterloses königsblaues Kleid, auch ihr Lidschatten ist königsblau, sie hat sich zurechtgemacht, sogar ihre Fußnägel sind lackiert, und an ihrem linken Knöchel blinkt ein silbernes Kettchen. Während Alex und sie im Warteraum bleiben, dringt die Stimme der Mutter aus dem Sprechzimmer, durchschlägt die Wand. Alex macht eine heftige Handbewegung, dann sitzt er nur noch erstarrt neben ihr. Als eine Krankenschwester die Tür öffnet, sind tränenerstickte Laute zu hören, dann bittende, schmeichelnde Worte: Der Doktor solle eine Ausnahme machen, sie habe schon zwei Kinder, und es komme doch nicht darauf an, ob sie im dritten oder vierten Monat sei. Nun ist die Stimme des Arztes deutlich zu hören, das wäre keine Lösung, sondern Mord, sagt er streng, und dieser Satz hinterlässt bei ihr einen tiefen Eindruck.
Auf dem Weg nach Hause können sie der Mutter kaum folgen, trotz ihrer hohen Absätze ist sie ihnen immer einen Schritt voraus.
Es ist längst dunkel, doch sie kann nicht einschlafen. Ist die Mutter schwanger? Sie vermag sich kaum an ihren Vater zu erinnern. Aus den Andeutungen der Mutter hat sie sich zusammengereimt, dass er im Gefängnis sitzt. Aber wer ist der Vater des Kindes im Bauch der Mutter?
Lange Zeit hat sie sich Sexualität so vorgestellt: Ein Mann steht nackt in einer Toilettenkabine, daneben steht, durch eine dünne Wand getrennt, eine nackte Frau. Der Samen wird vom Mann ausgestoßen, gleitet dann geschwind seine Beine hinunter auf den Boden, von da aus in die Nebenkabine, die Beine der Frau hinauf und dann in sie hinein. Die Frau und der Mann bewegen sich dabei überhaupt nicht und sprechen auch kein Wort. Inzwischen aber glaubt sie Bescheid zu wissen: Der Mann steckt der Frau sein Ding rein.
In den nächsten Tagen geht die Mutter nicht zur Arbeit. Sie raucht, trinkt, rauft sich die Haare, springt die Stufen im Treppenhaus mit großer Wucht herunter und wieder hoch. Sie sitzt stundenlang in der gelben Plastikwanne, geht selbst in die Kneipe und schleppt schwere Netze voller Bierflaschen nach Hause. Sie führt laut Selbstgespräche oder redet auf ihre Tochter ein, als wäre sie ihre Vertraute. Sie versucht zu lächeln, wenn die Mutter sie» mein gutes Pferdchen «nennt, innerlich stößt sie jedoch ein höhnisches Wiehern aus. Wenn die Mutter weinend im Sessel sitzt, steht sie neben ihr und flüstert tröstende Worte, obwohl ihr Herz längst erkaltet ist; sie weiß, dass die Mutter blitzschnell wieder ganz anders sein kann, also ist sie vorbereitet.
Nachts weckt sie ein Stöhnen. Sie schleicht über den Flur, sieht durch den Türspalt die Mutter auf dem Küchenboden in einer Blutlache sitzen. Sie begreift zuerst nicht, was die Mutter da macht, mit einer Stricknadel stößt sie sich zwischen die geöffneten Schenkel. Um dieses Muttergesicht auszublenden, starrt sie auf die bunten Teller über ihr an der Wand. Sie atmet aus und hat das Gefühl zu schrumpfen. Sie möchte mit dem Bild, das sich in ihr festsetzt, nichts zu tun haben. Sie wünscht sich eine andere Mutter. Seit Langem denkt sie, dass sie bei ihrer Geburt vertauscht wurde. Aber dieser Gedanke nützt ihr nichts. In der Nacht träumt sie von einem Monster, das sie töten will, und als sie endlich das Fenster öffnen kann und laut nach Hilfe ruft, setzt ein lärmender Sturm ein und verschluckt ihre Schreie.
Am nächsten Morgen ist der Küchenboden wieder sauber. Ein säuerlicher Geruch liegt in der Luft, als sie die Tür zum Schlafzimmer der Mutter öffnet. Die Mutter winkt sie zu sich und redet mit weinerlicher Stimme auf sie ein, redet vom Paradies und von Jesus, der in einem goldenen Palast wohne, obwohl er doch in einem armseligen Stall zur Welt gekommen sei. Sie versucht mitfühlend auszusehen, doch empfinden kann sie nur Widerwillen. Aber dann erzählt die Mutter, was sie nachts geträumt hat, und der Traum gleicht ihrem Traum, endet mit den Hilferufen, die niemand hört.
Sie hält die Luft an. Ist es möglich, dass sie sogar in derselben Traumwelt leben? Sie wird nie entkommen können?
Elvira ist neu in der Klasse und wohnt nur ein paar Häuser weiter. Nach der Schule haben sie denselben Weg, und als wäre es selbstverständlich, begleitet sie Elvira in einer Freistunde nach Hause. Die Tür wird von einer sehr dicken Frau geöffnet, die sie lächelnd begrüßt. In der winzigen Küche riecht es nach gekochtem Kohl. Es fällt kaum Licht durch die zum Hinterhof gehenden Fenster. Während Elviras Mutter die Mädchen über die Schule ausfragt, fährt sie sich mit der Patschhand durch ihre silberne Dauerwelle, die wie ein Lockenhelm ihren Kopf umrandet, und atmet schwer.
Sie hat noch nie eine so fette Frau gesehen. Ihre Mutter sei krank, erklärt Elvira später, der Stoffwechsel funktioniere nicht richtig, deshalb sei sie etwas korpulent. Bei ihrem nächsten Besuch lernt sie Elviras Vater kennen. Er trägt ein Parteiabzeichen am speckig gebügelten Revers seines Jacketts, karierte Hausschuhe und eine Nickelbrille. Wenn er ihr eine Frage stellt, setzt er seine Brille ab, doch meistens schweigt er.
Dienstags haben sie drei Freistunden, die sie bei Elvira zu Hause verbringen. In dieser Zeit läuft im Fernsehen die Wiederholung von Willi Schwabes Rumpelkammer , eine beliebte Sendung, in der alte Schwarz-Weiß-Filme vorgestellt werden, und dazu essen sie Spaghetti mit Tomatenketchup. Mehr noch als Heinz Rühmann und Theo Lingen mögen sie Johannes Heesters, in den sie ein wenig verknallt sind. Diese Dienstage sind Glückstage, sie freut sich schon die ganze Woche darauf.
Sie mag die Eltern ihrer neuen Freundin. Sie sind arm, aber diese Armut kommt ihr ehrbar vor, ganz anders als bei ihnen zu Hause. Ihre Mutter redet ständig über Geld, unter dem Bett hat sie eine Schatulle versteckt, in der sie Geldscheine und Schmuck aufbewahrt. Manchmal kommt sie in das Schlafzimmer und sieht die Mutter im Bett sitzen, Ringe und Armbänder vor sich ausgebreitet, die Geldscheine zu kleinen Haufen sortiert. Die Mutter fragt sie nie, ob ihr etwas gefällt, sondern immer nur, ob sie weiß, wie teuer die letzte Anschaffung war. Es bereitet ihr großes Vergnügen, wenn ihre Tochter sich irrt — es war viel teurer, sagt die Mutter dann mit stolzer Stimme.
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