Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.
Sie weiß längst um die Nutzlosigkeit, tapfer durchzuhalten, es ist Sinn und Zweck dieser Veranstaltung, irgendwann schwach zu werden, und das wiederum ist ein Vorwand für ihre Mutter, losprügeln zu dürfen. Alex bemüht sich trotzdem, mit aufgerissenen Augen steht er da, die Arme zittern, und sie möchte ihm am liebsten die Kissen aus den Händen reißen und rufen: Bring es hinter dich.
Wenn sie Elvis frühmorgens in die Krippe bringt, träumt sie davon, allein mit ihm das Haus im Wald zu bewohnen, sie stellt sich vor, er wäre ihr Kind. Die Mutter scheint Elvis nur wahrzunehmen, wenn sie ihn abends von ihrer Tochter zum Gutenachtsagen überreicht bekommt, dann tätschelt sie seinen Kopf und bewundert seine Babytolle.
Als sie ein Päckchen von Ellen bekommt, beobachtet die Mutter sie beim Auspacken. Obwohl sie ihre Blicke spürt, schafft sie es nicht, einen kurzen Jauchzer zu unterdrücken, als sie ihr Briefmarkenalbum entdeckt. Sie versucht, das Album beiläufig in ihr Zimmer zu bringen, und als sie zurück in die Küche kommt, lächelt die Mutter und fragt nichts. Sie weiß, dass ein Lächeln der Mutter vieles bedeuten kann, doch sie ist müde und nicht so vorsichtig, wie sie sein sollte. Sie ist so müde, dass sie am späten Abend, während sie die Briefmarken sorgfältig auf dem Bettlaken vor sich aufreiht, einschläft. Als sie erwacht, sind alle Briefmarken zerrissen, auch die mit dem tanzenden goldenen Nilpferd.
Am nächsten Morgen ist die Mutter in besonders boshafter Stimmung, nennt ihre Tochter eine Missgeburt und erzählt ihr, dass sie leider vergeblich versucht habe, sie abzutreiben. Ausführlich schildert die Mutter die blutigen Details, und sie glaubt ihr sofort.
Auf dem Weg zur Schule summt es hinter ihrer Stirn, als befände sich dort ein Bienenschwarm. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, hat das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. In der Pause bleibt sie neben einer Gruppe von Jungs stehen, zerbricht einen Kopierstift, steckt sich, für alle gut sichtbar, die Mine in den Mund. Sie will, dass man sie sieht, sie will nicht wirklich sterben. Sie verschluckt die Mine und wartet auf den Schrecken in den Augen ihrer Mitschüler, aber die beachten sie nicht weiter. Sie gibt ein ersticktes Gewinsel von sich, doch es klingt nicht echt, deshalb hört sie auf. Mittags berichtet sie Elvira von ihren Bauchschmerzen, und endlich kommt Bewegung in die Sache, ein Lehrer fährt sie ins Krankenhaus.
Sie wird gezwungen, becherweise Salzwasser zu trinken; sie erbricht sich, bis sie das Gefühl hat, ihre Eingeweide würden ihr zum Mund herauskommen.
Unter keinen Umständen will sie ihre Adresse nennen, sie will nicht nach Hause, nie mehr, das ist die einzige Auskunft, die sie zu geben bereit ist.
Sie bleibt ein paar Tage im Krankenhaus. Niemand besucht sie, außer einer Frau von der Jugendhilfe, die ihr mitteilt, dass sie vom Krankenhaus direkt in ein Heim kommen wird.
Sie ist die Neue. Sie sitzt in einem großen Raum und wird von allen gemustert, ständig öffnet sich die Tür, und ein anderes Gesicht gafft sie an. Sie hört Gekicher, schnappt Satzfetzen auf: Hast du die Neue gesehen, ist die dürr, sieht aus wie ein Junge, die Neue heult. Natürlich heult sie nicht, sie ist nur hungrig. Als das nächste Gesicht sie begafft, schaut sie undurchdringlich, verschränkt die Hände hinter dem Nacken und versucht gelangweilt zu wirken. Es dauert eine Weile, bis sie aus dieser Haltung erlöst wird, eine junge Frau kommt auf sie zu und reicht ihr die Hand. Ich bin Fräulein Keulitz, deine Erzieherin, sagt sie. Komm mit, ich zeig dir alles. Ihre Stimme klingt freundlich.
Sie folgt ihr die Treppe hinauf in den zweiten Stock, einen langen Flur entlang, es riecht nach Essen, und sie versucht die Gerüche zu entschlüsseln: Sie kann sich nicht zwischen Braten und Gulasch entscheiden, Kraut ist auf jeden Fall dabei. Als die Erzieherin eine Tür öffnet, verstummen die Stimmen dahinter. Die beiden Mädchen am Tisch sitzen da wie Ölgötzen, schauen bewegungslos in ihre Richtung, und Fräulein Keulitz wedelt mit der Hand durch die Luft, bemüht sich, die Rauchschwaden zu zerteilen. Hab ich euch erwischt, sagt sie, diesmal ist der Ausgang futsch.
Das Mädchen mit dem schwarzen Lockenkopf springt auf, entschuldigt sich, versucht Reue zu zeigen: Das war das letzte Mal, wir rauchen nie wieder, ehrlich, ganz, ganz ehrlich, sagt sie, die Blonde neben ihr lässt nur den Kopf hängen, als wäre es zu anstrengend, ihn aufrecht zu halten.
Sie scheinen damit durchzukommen, denn Fräulein Keulitz stellt ihr die beiden Mädchen vor, ohne weiter auf das Rauchverbot einzugehen. Andrea hat ein zartes Gesicht, dünnes, blondes Haar und einen großen Busen, Carmen, das Mädchen mit dem Lockenkopf, verdreht vielsagend die Augen, als sie ihr die Hand reicht, an ihrem Kinn prangt ein kreisrunder brauner Fleck, der mit winzigen Härchen bedeckt ist, und obwohl sie nicht hinsehen will, muss sie diesen Fleck anstarren, der ihr wie ein Stück Fell vorkommt.
Die beiden Mädchen schlafen im Doppelstockbett, ihr wird das Einzelbett neben dem Schrank zugewiesen. Bei der Aufnahme in der Kleiderkammer erhält sie eine Nummer, die Vierunddreißig wird in jedes ihrer Kleidungsstücke genäht. Sie probiert Hosen, Pullover, Kleider, alles zu groß, selbst die Blusen schlackern an ihr herum, nur Ärmel und Hosenbeine passen von der Länge her. Die Sachen sind getragen und selbst für sie nicht besonders attraktiv.
Die Erzieherin begleitet sie durch das Haus, erklärt ihr Regeln und Pflichten — eine Menge Dinge sind verboten —, zeigt ihr den Gruppenraum im ersten Stock und die übrigen Räume, führt sie durch das weitläufige Gelände und macht sie mit den anderen Erzieherinnen bekannt. Den Heimleiter lernt sie im Vorübergehen kennen, er ruft ihr zu, sie solle sich die Haare zusammenbinden; er ist ein korpulenter Mann, sein Gesicht von roten Äderchen durchzogen, er gibt ihr nicht einmal die Hand oder stellt sich vor, und seine Stimme klingt ärgerlich.
Beim Abendessen ist ihr Blick vor Müdigkeit verschleiert, sie nimmt die Gesichter um sich herum kaum wahr, registriert nicht, was sie isst, obwohl sich ihr überreizter Hunger mit der Schärfe einer Klinge in den Magen gebohrt hat.
In der ersten Nacht wacht sie ständig auf, in ihrem Kopf wirbeln die Gedanken umher, sie stellt sich ihren Bruder Elvis vor, sein Näschen, die glucksenden Geräusche, wenn sie ihm die Flasche gibt. Sie muss daran denken, wie der Vater ihr erzählt hat, dass die Mutter sie als Säugling ersticken wollte und er dies nur durch seine Wachsamkeit verhindern konnte. Sie will keinen Gedanken mehr an ihre Mutter verschwenden, doch immer wieder schreckt sie atemlos aus dem Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht, dringt Kuchengeruch durch die Tür. Es ist Sonntag. Sie bleibt im Bett liegen, bis Andrea und Carmen wach werden, ihre Fragen beantwortet sie zögerlich. Wo kommt sie her, warum ist sie hier, hat sie was angestellt? Was soll sie dazu sagen, so richtig weiß sie selbst nicht, warum sie hier ist. Sie spürt, wie sie unter ihren neugierigen Blicken linkischer wird und die Mädchen das Interesse an ihr verlieren. Sie macht einfach das, was sie auch tun, zieht das Laken glatt, faltet die Steppdecke, folgt ihnen in den Waschraum. Sie gibt sich den Anschein von Gelassenheit, als sich die anderen nackt an ein rundes, steingraues Waschbecken stellen, über dem Becken sind in Brusthöhe mehrere Wasserhähne, die Mädchen waschen sich, putzen die Zähne, spucken das Gurgelwasser geräuschvoll aus. Während sie sich des Schlafanzugs entledigt, hat sie das Gefühl, dass alle Augenpaare auf sie gerichtet sind, sie meint, ein Kichern zu hören, und möchte vor Scham im Boden versinken.
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