Darauf weiß er keine Antwort. Er ist dieses Jahr eingeschult worden, übt mit Begeisterung Schönschrift und Pionierlieder, kann es kaum erwarten, bald sein blaues Halstuch zu tragen.
Sie stiehlt der Mutter fünfzig Pfennig aus der Jackentasche, und das stellt sich als fataler Fehler heraus: Das Geld war abgezählt. Die Geschwister werden von ihr verhört, sie zieht alle Register, lockt mit falschem Mitleid, droht ihnen lebenslänglichen Stubenarrest an. Warum ist der Mutter ein Geständnis so wichtig, fragt sie sich, und warum kann sie ihr nicht einfach die Wahrheit sagen? Je heftiger die Mutter in sie dringt, desto mehr hat sie das Gefühl, nur lügen zu können; sie ist angeklagt und muss ihre Unschuld beweisen, nur darum geht es.
Am nächsten Morgen präsentiert die Mutter den Dieb. Sie stößt Alex durch die Wohnung und ruft: Er hat es zugegeben! Ihr Bruder wird ins Bett geschickt, er darf nicht einmal zur Schule gehen. Dann berichtet ihr die Mutter triumphierend, wie sie es angestellt hat, ihm die Wahrheit zu entlocken. Nachts habe sie, als Gespenst verkleidet, mit verstellter Stimme auf ihn eingeredet, sie habe ihn mit einer Stecknadel gepiekst, und er habe sich nicht einmal getraut zu weinen, so große Angst habe er vor dem Gespenst gehabt. Die Mutter findet das lustig, ungeheuer lustig. Noch während die Mutter ihr das lachend erzählt, schwappt eine Welle von Müdigkeit über sie hinweg, sie kann Alex nicht in die Augen schauen, bringt es nicht fertig, ihm die Wahrheit zu sagen, sich bei ihm zu entschuldigen. Abends feiert die Mutter ausgelassen, sie hat Bohnensalat und Buletten zubereitet und tanzt zu lauter Musik mit Henry durch die Wohnung.
Sie ist noch wach, als die beiden kichernd das Kinderzimmer betreten. Obwohl sie weiß, dass das flachnasige Monster mit dem Strumpf über dem Kopf ihre Mutter ist, erschrickt sie — die Mutter und Henry schütteln sich vor Lachen. Dann wacht Alex auf. Er will einen Schrei ausstoßen, doch der Schrei kommt nicht durch, er schlägt die Hände vor seinen geöffneten Mund, und als die Mutter den Strumpf vom Gesicht zieht, winselt er und verkriecht sich unter der Bettdecke. Als es längst still in der Wohnung ist, gibt er immer noch dieses Winseln von sich, sie muss an ihren Hund Hugo denken und macht sich Vorwürfe, ihn alleingelassen zu haben.
Während sie am nächsten Morgen die Bierlachen vom Wohnzimmertisch wischt, isst sie die Reste aus der Schüssel, isst den ganzen Bohnensalat, der noch übrig ist, trinkt die saure Sauce bis zum letzten Tropfen aus. Als die Mutter sie wütend zur Rede stellt, geht Henry dazwischen, wir haben doch alle als Kinder genascht, sagt er, die Mutter legt den Kopf schief, schiebt schmollend die Unterlippe vor und entlässt ihre Tochter mit einem Achselzucken.
Sie schreckt hoch, als sie das Schreien hört, springt sofort auf, läuft leise über den Flur, beugt sich über das Körbchen, in dem das Baby liegt, und nimmt es hoch.
Die Mutter hat vor einer Woche ihren Bruder Elvis geboren. Seitdem braucht sie Ruhe, sehr viel Ruhe. Sie klagt, sie sei derart erschöpft, dass sie keine Milch in ihren Brüsten habe, klagt über Rückenschmerzen, Übelkeit, ein Sausen im Ohr, und so kümmert sich ihre Tochter um den Kleinen.
Obwohl sie immer wieder beschließt, nicht müde zu sein, fällt es ihr schwer, nicht überall und auf der Stelle einzuschlafen. Sie muss bereit sein und beim ersten Laut reagieren, bevor ihn die Mutter hört, die sonst wie der Zorn Gottes im Flur erscheint und alles nur noch schlimmer macht. Mit ruckartigen Bewegungen trägt die Mutter dann den Säugling durch die Wohnung, der sofort noch lauter schreit, brüllt wie am Spieß und sich nur beruhigt, wenn seine Schwester ihn in die Arme nimmt. Es ist der Einfall der Mutter gewesen, sich den Zorn Gottes zu nennen, irgendwo hat sie aufgeschnappt, niemand auf Erden sei sicher vor diesem Zorn, und diese Vorstellung scheint der Mutter zu gefallen.
Sie gewöhnt sich schnell daran, ihrem Bruder die Flasche zu geben und die Windeln zu wechseln, sie trägt ihn durch die Wohnung, spricht leise auf ihn ein. Sein erstes Lächeln gilt ihr. Es erfüllt sie mit Stolz, dass Elvis nur bei ihr friedlich ist, kaum nimmt die Mutter ihn hoch, wölbt er den Rücken, sträubt sich und schreit. Wenn sie aus der Schule kommt, wartet die Mutter schon entnervt auf sie; doch nach einigen schlaflosen Nächten hat sie das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen, in dem ihre Arme und Beine mit Gummibändern am Boden befestigt sind. Sie ist so erschöpft, dass sie im Unterricht einschläft oder gar nicht erst in die Schule geht.
Seine Mutter, sagt Henry, könne helfen; ein paar Tage später steht, energisch klingelnd, eine kleine, ältere Frau vor der Tür. Tante Margot, so will sie genannt werden, ist der Überzeugung, dass Babys so lange schreien müssen, bis sie müde sind und einschlafen. Sie fragt sich, ob die Tante wusste, was sie damit anrichtet, denn ihr winziger Bruder scheint eine Art Wettstreit mit Tante Margot zu führen, er schreit und schreit, als wolle er mit seinem gellenden Wehgeheul die Luft zum Bersten bringen. Wenn Tante Margot dann ihre Ohren mit Watte verstopft und in einen tiefen Schlaf fällt, holt sie ihren Bruder zu sich ins Bett. Er ist sofort still und braucht nicht einmal einen Nuckel, um einzuschlafen. Elvis, Elvis, sie flüstert seinen Namen — anfangs hat sie ihn abscheulich gefunden, war wütend auf Henry mit seiner Elvis-Presley-Leidenschaft —, doch inzwischen liebt sie alles an ihrem Bruder.
Kaum beginnt Elvis zu brüllen, hat die Mutter in der Regel dringende Dinge zu erledigen und verlässt die Wohnung. Einmal geht sie sogar mit Alex in den Zoo, doch sein Gesicht ist alles andere als fröhlich, als er zurückkommt. Sie hat die ganze Zeit in der Kneipe gesessen, berichtet er seiner Schwester, und er durfte den Platz neben ihr nicht verlassen.
Tante Margot braucht eine Weile, um zu bemerken, dass sie nicht erwünscht ist. Die Mutter arbeitet wieder in der Mitropa, und eines Abends ist es so weit. Schlecht gelaunt und auf Streit aus betritt sie die Küche, und dann fliegen die Fetzen. In dem Gesicht von Tante Margot wechselt der Ausdruck von Überraschung zu ungläubigem Entsetzen, langsam scheint sie zu begreifen, mit wem ihr Sohn sein Leben verbringt. Während die Mutter wie eine Furie herumschreit, weicht die kleine Frau Schritt für Schritt zurück, versucht die Fassung zu bewahren, indem sie sich schweigend die Stirn mit einem Tuch abtupft. Es ist ein gestreiftes Geschirrtuch, doch es hätte genauso gut das rote Tuch eines Stierkämpfers sein können, denn die Mutter reißt ihr das Tuch mit einem Ruck aus der Hand, wirft es auf den Boden und trampelt wütend darauf herum.
Eine Stunde später verlässt Tante Margot die Wohnung. Zwei Tage darauf hat die Mutter den ersten großen Streit mit Henry. Er stellt die Musik lauter, trotzdem kann sie jedes Wort verstehen, ihre Mutter ist eifersüchtig auf eine andere Frau, und er kann noch so sehr seine Unschuld beteuern, sie glaubt ihm nicht, brüllt und heult, und ihre Tochter weiß, dass die Mutter das Spektakel noch lange durchhalten kann. Doch da geht Henry, geht einfach raus aus der Tür, ist auch nach Stunden noch nicht wieder zurück.
Während sie im Morgengrauen die Milchflasche für Elvis aufwärmt, sitzt die Mutter noch immer am Küchentisch, unbeweglich, wie versteinert.
Am Abend ist Henry wieder da, doch nach dem nächsten Streit packt er seine Koffer, und in der Wohnung kehrt so etwas wie Ruhe vor dem Sturm ein. Die Mutter liegt zusammengerollt im Bett, starrt in die Luft, beachtet niemanden. Als sie wieder zu sprechen beginnt, lässt die Mutter die Sätze unbeendet, und ihre Worte klingen kalt und wie losgelöst von ihr. Sie hat gelernt, was das bedeutet, und versucht besonders leise zu sein. Doch das Gehör der Mutter ist wieder intakt; während draußen der Wind in den Bäumen wütet, die Fenster klappern, schreit sie beim geringsten Geräusch in der Wohnung nach Ruhe.
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