Mit dem Wissen, dass sie bald weg sein wird, lassen sich die Stunden besser überstehen, Erwartung liegt in der Luft.
Sie kauft sich eine rote Plastikhandtasche, die sie seit Tagen im Schaufenster bewundert hat. Das Geld hat sie sich aus der Kassette ihres Vaters besorgt, er scheint die Scheine und Münzen schon lange nicht mehr zu zählen. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und läuft durch die Straßen. Es ist gleißend hell, sie schwitzt, fühlt sich von einem Augenblick auf den anderen krank. Sie sucht nach Schatten, Blasmusik weht von der Promenade herüber, die Töne legen sich mit dem Gewicht von Steinen auf ihre Haut. Sie kauert sich mit dem Rücken an eine Wand, den Kopf auf die angezogenen Knie, dämmert weg. Die Hitze kommt in Wellen, ergreift ihren ganzen Körper.
Sie kann sich nicht erinnern, wie sie in das fremde Bett gekommen ist, die Krankenschwester erklärt es ihr. Sie lag mit vierzig Grad Fieber auf der Straße, irgendjemand hat den Krankenwagen gerufen. Sie hat Scharlach. Die Stimme der Krankenschwester erreicht sie von weit her, sie will etwas antworten, doch ihre Zunge lässt sich nicht bewegen, hat sich in ein Stück rostiges Metall verwandelt.
Als sie wieder erwacht, erblickt sie zwei Gestalten, die sie zuerst für Traumbilder hält. Ellen sitzt strickend auf einem Stuhl, die Mutter steht am Fenster und blättert in einer Illustrierten. Sie schließt schnell die Augen. Vorsichtig blinzelnd stellt sie fest, dass Ellen keinen Bauch mehr hat und ihr Haar grau geworden ist — während die Mutter erblondet und schwanger zu sein scheint. Als sie sich aufsetzt, weil dies nur ein Traum sein kann, stürzt die Mutter auf sie zu und umarmt sie. Ein solcher Schreck fährt ihr in die Glieder, dass sie völlig erstarrt dasitzt, sie lässt die Umarmungen über sich ergehen, unfähig, sich zu rühren.
Was hast du denn? sagt die Mutter. Freust du dich gar nicht?
Ich freue mich, versichert sie, und weil ihr sonst nichts einfällt, zeigt sie auf den Bauch. Bist du schwanger? sagt sie.
Was für eine Begrüßung, sagt die Mutter und lässt von ihr ab. Natürlich bin ich schwanger, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Sie presst die Lippen aufeinander und streicht über ihren Bauch.
Als Ellen an das Bett tritt und ihre Hand nimmt, weiß sie nicht, was sie sagen soll. Sie wirft der Mutter einen verschwörerischen Blick zu, als wäre ihr diese Frau peinlich. Sie kann Ellen nicht ansehen, möchte sie gern fragen, ob sie wieder richtig gesund ist, doch sie traut sich nicht. Stattdessen grinst sie und spürt, wie ein dumpfer Druck sich über ihr Herz legt. Als Ellen sich von ihr verabschiedet, schnürt ihr der Druck die Luft ab, doch sie grinst einfach weiter.
Die Mutter besteht darauf, noch heute nach Hause zu fahren. Als sie mit dem Arzt diskutiert, meint ihre Tochter ein Zittern in ihrer Stimme wahrzunehmen, ein ungeduldiges Zittern, hinter dem ein Beben lauert, das, jederzeit, in einen Sturm übergehen kann.
Während die Landschaft im Zug an ihnen vorbeifliegt und die Mutter von zu Hause erzählt, bedauert sie, dass sie sich nicht von Hugo verabschieden konnte.
Inzwischen ist die Mutter dabei, ihr die Stunden vorzurechnen, die sie ihretwegen schlaflos verbracht hat. Ein vages Gefühl der Unruhe steigt in ihr auf, die Mutter hat einen neuen Mann, und das Baby ist ein Wunschkind.
Alex wartet schon hinter der Tür. Sie umschleichen einander wie fremde Wesen, können es nicht fassen, wieder zusammen zu sein. Die Wohnung hat sich nicht verändert, nur ihr Bruder kommt ihr anders vor, noch seltsamer. Beim Sprechen rollt er die Zunge im Mund, als wolle er Murmeln spielen, reibt sich ständig die Hände am Stoff seiner Hose, springt auf, setzt sich, springt wieder auf, schaut unruhig umher, ein kleiner, überdrehter Kobold.
Dann holt die Schwäche sie ein, haut sie geradezu von den Füßen. Die nächsten Tage liegt sie im Bett, träumt wirres Zeug — sie hat keine Füße mehr, die Beine enden an den Knien, sie springt wütend auf Kniestümpfen durch die Gegend, die Kniestümpfe sind blutig, und sie rammt sie tief und tiefer in den Boden. In den Träumen schießen auch Bilder von Hugo in ihr hoch, und noch im Schlaf durchrollt sie eine Woge aus schlechtem Gewissen.
Als sie sich besser fühlt, kann sie es kaum erwarten, durch ihre vertrauten Straßen zu gehen. Sie besucht Elvira, die ihre längeren Haare bestaunt. Du siehst aus wie ein Mädchen, sagt Elvira so verwundert, als wäre sie früher ein Junge gewesen.
Der neue Mann ist bei ihnen eingezogen. Henry arbeitet mit ihrer Mutter in der Mitropa. Stolz zeigt er ihr seine Schallplattensammlung, die im Wohnzimmer lagert; es sind Hunderte von Platten, die meisten aus dem Westen. Sie betrachtet ein Foto auf der Plattenhülle, es ist ihr peinlich, dass sie sich über den Mann mit der Ponyfrisur äußern soll.
Keine Ahnung, sagt sie, hab nie was von ihm gehört.
Er kann es nicht fassen, dass sie Cliff Richard nicht kennt. Danach scheint sie für Henry ein hoffnungsloser Fall zu sein, er spricht mit ihr nie wieder über seine Platten, und sie ist nicht traurig darüber.
Sie freut sich auf den ersten Schultag, kämmt sich mit besonderer Sorgfalt die Haare, benutzt sogar einen Lippenstift, wischt ihn aber vor der Schule wieder ab.
Die anderen Mädchen müssen sich vor den Sommerferien abgesprochen haben, Brüste zu bekommen, denn sie ist die Einzige, die noch flach wie ein Brett ist. Sie hat kein Gramm Fett an den richtigen Stellen vorzuweisen, beunruhigt fragt sie sich, ob das so bleiben wird. Beim Umziehen vor dem Sportunterricht mustert sie die Mädchen genauer, einige tragen schon einen BH, und Elvira zeigt ihr stolz die winzigen Brüste in der Toilettenkabine und fragt sie: Hast du auch schon welche? Sie zeigt nichts, zuckt nur unbestimmt die Schultern, was alles bedeuten kann, vor allem, dass es sie gar nicht interessiert.
Die Jungs in der Klasse kommen ihr vor, als seien sie lauter geworden, gefährlicher, sie machen sich über alles lustig, brüllen widerliche Ausdrücke durch die Gegend, nennen die Mädchen Schlampen und Nutten, niemand entgeht ihrem Spott. Da ist das Schneewittchen, rufen die Jungs ihr nach, kein Arsch und kein Tittchen!
Die Herbstfarben explodieren in den Hinterhöfen, Weinreben ranken die Hauswände hoch, sie klettert mit ihrem Bruder über Mauern, sie liebt diese Kletterei, liebt es auch abzuhauen, auf der Flucht zu sein, wenn die Hausbewohner ihnen hinterherschreien, weil sie um ihre Weintrauben fürchten, sie versteht es sogar, sie wäre genauso zornig, wären es ihre Weintrauben, diese Einsicht hält sie aber nicht davon ab, händevoll die noch halb sauren Früchte zu verschlingen.
Dann ist der erste Stubenarrest fällig. Die Mutter hat ein erschöpftes Gesicht, als sie die Strafe verkündet, und weil ihre Tochter so aussieht, als mache ihr der Stubenarrest nichts aus, bekommt sie gleich noch einen zusätzlichen Monat aufgebrummt.
Sie geht täglich in die Kneipe und holt den Nachschub an Bierflaschen. Der neue Mann sitzt abends mit der Mutter vor dem Fernseher, öffnet eine Flasche nach der anderen. Henry verträgt viel, und auch die Mutter versteht es zu trinken, ihre Augen glänzen, sie lacht, als würde sie gekitzelt, und sie stolpert nicht mal, wenn sie mit Henry tanzt. Seitdem er bei ihnen wohnt, ist Musik angesagt, allabendlich spielt er seine Platten ab, und ihre Mutter stimmt in die Schlager mit ein, singt aus voller Kehle, als wäre sie glücklich.
Ihr schwangerer Bauch scheint sie nicht zu stören. Richtig wütend ist sie nur noch, wenn Henry nicht da ist; dann kann es allerdings heftig zur Sache gehen, wie ein aufgestautes Jaulen brechen die Töne aus ihrer Kehle hervor.
Sie begreift nicht, warum der Zorn mit solcher Wucht der Mutter in die Glieder fährt, dass sie nur noch röchelt oder schreit, mit böser Stimme, als wolle sie alle vernichten. Sie glaubt nicht wie Alex an einen Dämon, der von ihrer Mutter Besitz ergreift — warum schreit sie dann die Bäckersfrau nicht an, hält sie ihrem Bruder entgegen, oder verprügelt den Postboten?
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