Die Mädchen im Heim registrieren genau, dass Andy, der total einfetzende Andy, ein Junge vom Knochenplatz, sich mit ihr abgibt. Das scheint ihren Status noch einmal völlig zu verändern. Die Mädchen wollen mit ihr über Jungs reden, sie scheint über Nacht eine Expertin in dieser Hinsicht geworden zu sein. Sie übt mit den anderen Mädchen, wie man richtig lacht; es gibt das raue, fiese Lachen, das nur gelacht wird, wenn keine Jungs in der Nähe sind, es gibt das vornehme Lachen, das nur in Verbindung mit dem ebenfalls geprobten Augenaufschlag gilt, es gibt das Lachen mit einem quietschenden Gluckser am Ende. Die Mäd-chen verteilen Zensuren für Küsse, und sie bekommt eine Drei minus bei der Kussprüfung, sie selbst verteilt großzügig bessere Noten. Sie träumen sich ihre zukünftigen Geliebten herbei, entwerfen Gesichter, die Filmhelden ähneln, den Jungs vom Rummelplatz oder ihren Vätern. Sie selbst würde sich nie eingestehen, dass sie in Andy verliebt ist, und sie hat auch nur eine resignierte Vorstellung von ihrem späteren Mann, die sie den anderen Mädchen nicht erzählt. Ihr späterer Mann ist älter als sie, er ist dick und bettlägerig, er hat einen Hund, mit dem sie Gassi geht. Sie darf dem dicken Mann das Essen bringen, die Bettwäsche wechseln, sie darf ihm vorlesen. Sie reden kaum miteinander, Berührungen sind ausgeschlossen, sie bekommt Geld für ihre Dienste. Diese Vorstellung macht sie natürlich nicht glücklich, doch sie denkt, dass sie nichts Besseres verdient hat.
Weil Andy sie in seiner Nähe duldet, akzeptieren sie auch die anderen Jungs, sie helfen ihr sogar, mit zwei Nähnadeln eine Tätowierung auf ihren Arm zu stechen, einen Totenkopf, der aussieht, als ob er frieren würde. Sie hält den Schmerz aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn Andy gute Laune hat, ist er freigebig mit seiner Zuneigung. Als sie ihn um ein Freundschaftsfoto bittet, begleitet er sie ohne Widerworte zum Fotografen. Es ist kurz vor Ostern, in den Schaufenstern stehen Papphasen herum, bemalte Eier liegen in Körben, und sie muss kurz an zu Hause denken. Mit dem Fotografen besprechen sie das Format, es soll ein Schwarz-Weiß-Foto ohne Schmuckrand werden und so groß wie ein Briefumschlag. Während sie schon erwartungsvoll in die Linse starrt, versucht Andy vor dem Spiegel, die Haare nach hinten zu einem Entenschwanz zu kämmen. Als das Blitzlicht den Raum erhellt, spürt sie seinen Atem im Nacken, dann ist es vorbei. Auf dem Heimweg fühlt sie wie aus dem Nichts Verdrossenheit in sich aufsteigen, sie hat keine Lust zu reden, ihre Freude ist wie weggeblasen, und ihre Wut kommt für sie selbst ganz unerwartet. Am liebsten würde sie sich wie ein Affe durch die Bäume werfen und laute Urwaldschreie ausstoßen.
Als sie frühmorgens das Blut zwischen ihren Beinen entdeckt, ist sie überrascht, obwohl sie natürlich Bescheid weiß. Sie läuft zu der diensthabenden Erzieherin. Ich blute, sagt sie zu Frau Nissen, der Frau des Heimleiters. Sie muss an das Schwein denken, das im vergangenen Herbst im Hof des Heimes geschlachtet wurde, an die Wanne voller Blut. Die Kinder hatten das Schwein vorher wochenlang im Holzschuppen mit Küchenabfällen gefüttert. Sie weiß nicht, wie sie mit dem Geruch klarkommen soll. Frau Nissen gibt ihr Binden und erteilt ihr Hygieneratschläge, die anderen Mädchen schauen komisch, weil sie sich so affig anstellt. Sie hofft, dass sich ihr Körper verändern wird, dass sie Brüste bekommt, ihr nackter Hamster endlich Haare.
Eigentlich ist ihr die Jugendweihe egal, doch ihr gefällt, dass sie fortan von den Lehrern gesiezt werden wird und dass sie einen Personalausweis bekommt. Als sie verschiedene Kleider für den Festakt probiert, versucht sie sich einzureden, dass sie zugenommen hat. Sie entscheidet sich als einziges Mädchen in ihrer Klasse für einen Hosenanzug. Aber auch dieses Oberteil schlackert an ihr herum, die Hose rutscht ihr über die Hüften, obwohl sie die Knöpfe am Bund versetzt. Sie besorgt sich den kleinsten BH, stopft ihn mit Watte aus und zieht eine dicke Trainingshose unter die Hose des Anzugs.
Während der Friseur ihr die Haare auf Lockenwickler dreht, erfährt sie, dass der Waldbrand im vergangenen Jahr ein Anschlag aus dem Westen gewesen ist, auch beim lange zurückliegenden Eisenbahnunglück an der Küste soll der Westen seine Hände im Spiel gehabt haben, vierundvierzig Tote, wiederholt der Friseur voller Abscheu, der Westen ist doch zu allem fähig.
Obwohl sie den Laden mit ganz bestimmten Vorstellungen betreten haben — Radatte zeigt ein Bild von Gina Lollobrigida, sie selbst möchte wie die Geliebte von D’Artagnan aussehen —, verlassen sie das Geschäft mit den gleichen Frisuren; die Haare sind aus der Stirn nach hinten gesteckt, vor ihren Ohren kringeln sich die Korkenzieher. Auf dem Gruppenfoto, das sie später in den Händen hält, haben alle Mädchen diese Frisur.
In der Schulaula sitzen die kostümierten Mädchen, die Jungs tragen Anzug und Krawatte, der Direktor spricht, die Schüler wiederholen das Gelöbnis im Chor, geloben den Frieden zu verteidigen, die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen. Die Worte rauschen an ihnen vorbei, abgenutzt und bis zum Überdruss gehört, sind sie nichts weiter als leere Worthülsen, bedeutungslos für ihren Alltag.
Die Frühlingssonne strahlt schräg und warm durch die Fenster, zeigt Risse an den Wänden, Flecke auf Honeckers Lächeln. Als sie nach vorn geht, um sich das Buch Weltall, Erde, Mensch abzuholen, rinnt ihr Schweiß vom Hals den Rücken hinunter, wattige Hitze umgibt sie, die Trainingshose klebt an ihren Beinen. Der Direktor reicht ihr die Hand, sagt etwas, neigt den Kopf zur Seite, sie versteht kein Wort. Sie nimmt alles wie hinter einem Schleier wahr, die neuen Jugendweiheschuhe drücken, mit den lächerlichen vier Zentimeter hohen Absätzen überragt sie den Direktor. Während sie zurück auf ihren Platz geht, die Augen auf das verblichene Muster des Teppichs geheftet, versucht sie das Bild von sich auszublenden, das Bild einer staksenden Missgeburt. In ihrer Stuhlreihe angekommen, prustet sie los, kann nicht mehr aufhören zu lachen.
Conny trägt ein rosafarbenes, mit Perlen besetztes Kleid, ihr Gang ist schwingend, das Haar fällt ihr über die Schultern, leuchtend und dick wie Honig. Doch die Fingernägel ihrer Freundin sind bis auf die Haut abgebissen. Conny denkt an später. Sie sagt, ihre Eltern mögen Andy nicht, und sie wird ihr Leben lang weinen, wenn er sie verlässt. Sie hat nicht geahnt, dass ihre Freundin zu solchen Ausbrüchen fähig ist, ein Leben lang weinen, fast beneidet sie Conny um diese Vorstellung.
Sie hat sich eine Mutprobe ausgedacht. Sie überredet Conny, mit ihr auf den Friedhof zu gehen. Der Schlüssel zu dem kleinen Kabuff neben der Kirche liegt unter einem Blumentopf. Hinter dem Vorhang ist tatsächlich eine Tote aufgebahrt, eine alte Frau mit gefalteten Händen, die Augen geschlossen. Während sie die Frau aus der Nähe betrachtet, versucht sie etwas zu empfinden, berührt die Haut, doch es ist nur ein kühler Widerstand, so hat sie sich den Tod nicht vorgestellt. Der Schreck, der sich noch einstellt, kommt von einem Windstoß, der den Vorhang aufbauscht, und mit einem lauten Kreischen rennt sie nach draußen. Conny folgt ihr, ebenfalls schreiend, sie laufen die schmalen Wege entlang, taumeln über Gräber, das Licht färbt die Grabsteine knochenweiß. Sie steigern sich in ihre Furcht hinein, fallen in eine Art Schüttelfrost, und trotzdem, als sie den Friedhof verlassen, ist ihr leicht und froh zumute — es hat gutgetan, dieses laute Schreien.
Am nächsten Morgen macht sie sich allein auf den Weg; es ist windstill, als sie den Friedhof betritt. Sie bleibt lange vor der Toten stehen, redet mit ihr, doch nach einer Weile gehen ihr die Worte aus. Sie steht da und versucht sich den Totenschädel vorzustellen, die Knochen. Sie legt ihre Hand dahin, wo sie das Herz vermutet, fühlt nur den kalten, feuchten Stoff, spürt keine Angst, nur ein leises Knacken hinter ihrer Stirn. Sie denkt, dass es keinen Unterschied machen würde, läge sie dort, nichts wäre auch nur ein kleines bisschen anders, dieselbe Luft würde sanft die Blätter streifen, genau dieser Staub durch das flimmernde Sonnenlicht tanzen. Sie holt tief Luft, verschiebt den Tod in die Unendlichkeit, die sie noch vor sich hat, so viele Jahre lang.
Читать дальше