Sie ist merkwürdigen Stimmungen ausgesetzt, es gibt Stunden, da bringt sie nichts aus der Ruhe, dann wieder lässt der Flügelschlag eines Schmetterlings die Luft um sie herum erzittern, sie weiß nicht, wohin mit ihrer Energie, könnte ausrasten vor Ungeduld, und immer fühlt sie sich hungrig.
Die Speisekammer befindet sich in einem kleinen Anbau, gleich neben der Küche, die Vorräte sind dort in Regalen gelagert. Das vergitterte Fenster steht offen, über die Gitterstäbe ist ein grünes Fliegennetz gespannt. Niemand käme auf die Idee, dass ein Mensch durch die schmalen Zwischenräume passen könnte, doch sie hat gelernt, wenn der Kopf durchkommt, dann schafft es auch der ganze Körper. Mit einem einzigen Schnitt durchtrennt das Messer in ihrer Hand das Fliegennetz. Ihr Kopf passt mühelos durch die Gitterstäbe, ihr Körper schiebt sich schlangengleich hinterher, nur hat sie nicht mit dem Eimer Apfelmus gerechnet, der innen unter dem Fenster steht. Mit einem Fuß landet sie in dem Eimer, und als sie laut flucht, pressen sich Kindergesichter von außen an die Gitterstäbe. Sie verteilt alles, was sie in die Hände bekommt, Schokolade, Bonbons, Kokosflocken, Geleeschnitten, Kekse, dann geht der Zwieback raus und Obst, sie kommt sich vor, als würde sie einen gefährlichen Einsatz leiten. Als sie nach wenigen Minuten wieder nach draußen klettert, empfangen sie die anderen mit Applaus.
Nicht einmal der Heimleiter kann sich vorstellen, dass jemand durch die Gitterstäbe passt, aber woher haben die Diebe den Schlüssel für die Speisekammer? Warum ist das Fliegenfenster zerschnitten und das Apfelmus über den Boden verschmiert? Diese Fragen stellt Herr Nissen beim Montagsappell, und er verlangt die Namen der Täter, doch niemand antwortet ihm. Auch später wird sie nicht verpetzt, und für eine Weile fühlt sie sich unverwundbar.
Aus ihrem Spitznamen Gerippe ist Rippchen geworden, nur ein paar Jungs rufen sie noch Speiche und Hungerhaken, doch es macht ihr inzwischen weniger aus.
Seitdem sie der Klassenschönsten mit ihren Spickzetteln zu guten Deutschnoten verholfen hat, sind sie beinahe befreundet. Während des Unterrichts darf sie ihr mit einer kleinen Schere die ungesunden, gesplissten Haarspitzen abschneiden, sie darf ihr weiterhin Spickzettel zuwerfen, und in den Schulpausen erhält sie dafür von ihr Ratschläge über Frisuren und den richtigen Nagellack. Wenn Constanze mit ihr redet, hat sie das Gefühl, weniger hässlich zu sein, als würde ein Funken ihrer Schönheit auf sie überspringen und den Unterschied zwischen ihnen verwischen.
Vor den Weihnachtsferien erfährt sie, dass sie die Feiertage im Kinderheim verbringen muss. Ihr ist sofort klar, dass sie abhauen wird, sie wird Elvis in der Kinderkrippe besuchen. Diesmal weiht sie Miu und Radatte ein, die ihr beide anbieten, sie könne Heiligabend bei ihnen zu Hause verbringen.
Morgens auf dem Schulweg stemmt sie sich gemeinsam mit den anderen Kindern gegen den kalten, rauen Wind; irgendwann bleibt sie zurück, kramt so lange in ihrem Ranzen, bis die anderen hinter einem Hügel verschwunden sind. Sie läuft querfeldein zur Autobahn, zum ersten Mal trampt sie. Ein LKW hält quietschend neben ihr, und als sie einsteigt, hat sie das Gefühl, erwachsen zu sein. Auf die Frage des Fahrers, wo sie bei diesem Wetter hinwolle, erfindet sie einen Schulausflug und einen verpassten Bus. Der Fahrer scheint ihr zu glauben, er bietet ihr Kaffee aus einer Thermoskanne an, für den Rest der Fahrt starrt er wortlos auf die Straße. Er setzt sie am Hauptbahnhof ab, und als sie vor dem großen Sandsteingebäude steht, durchfährt sie wehmütige Freude; sie begrüßt den Hauptbahnhof, als wäre er ein alter Bekannter. Sie hat sich vorgenommen, ihren Bruder Elvis erst am Tag vor Heiligabend in der Kinderkrippe zu besuchen, dann würde die Polizei nicht mehr mit ihr rechnen.
Die erste Nacht will sie bei der Mutter von Radatte schlafen. Als sie an der Tür klingelt, erscheint hinter dem ovalen Fensterchen ein altes Frauengesicht, das stirnrunzelnd irgendetwas Unverständliches nuschelt. Nachdem sie ihr glaubhaft versichern konnte, dass sie die Freundin ihrer Tochter ist, öffnet die Frau die Tür und lässt sie herein. Die Wände in der Wohnung sind vollständig mit Bierdeckeln bedeckt, es riecht ungelüftet und nach Essensresten. Die Frau geht in die Toilette, und als sie wieder herauskommt, sieht sie weniger alt aus. Mein Gebiss, sagt sie, vergess ich immer.
Radattes Mutter setzt sich auf ein zerschlissenes rotes Samtsofa, bietet ihr den Platz neben sich an und beginnt mit flacher, tonloser Stimme zu reden; erzählt von ihrem Mann, der Geburt von Radatte, ihrer eigenen Kindheit, unterbricht sich nur, um einen Schluck aus der Bierflasche zu trinken. Radattes Mutter redet unentwegt, und sie nickt, als wäre sie ein lang erwarteter Gast und nur hierhergekommen, um ihr zuzuhören. Später holt die Frau ein Stück Hackbraten aus der Küche, kannste aufessen, sagt sie, während sie selbst nichts anrührt. Gegen Mitternacht stehen viele leere Bierflaschen auf dem Boden. Radattes Mutter ist völlig betrunken, und obwohl ihr die Worte wegrutschen, redet sie noch immer. Irgendetwas muss sie ihr mitteilen wollen, eine wichtige Botschaft — würde die Frau nicht sonst endlich den Mund halten? Ihr fallen die Augen zu, ihr Kopf sinkt auf die Sofalehne, und noch im Halbschlaf umhüllt sie das lallende Gemurmel.
Als sie frühmorgens erwacht, leuchtet es hell, sie sieht vor dem Fenster große Schneeflocken durch die Luft taumeln. Sie betrachtet die Bierdeckel an den Wänden, die aus der ganzen Welt stammen, auf einigen der runden Pappdeckel entdeckt sie sogar chinesische Schriftzüge. Auch die Toilette ist mit Bierdeckeln tapeziert; sie versucht die Spülung leise zu ziehen, doch als sie das Wohnzimmer betritt, steht Radattes Mutter vor ihr. Sie sieht immer noch betrunken aus, ihre Augen liegen tief in den Höhlen, ihr Gesicht ist kalkweiß. Doch es scheint nichts mehr zu geben, worüber sie sprechen will, ohne ein Wort verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer. Der Schnee knallt inzwischen als heftiger, weißer Regen an die Fensterscheiben. Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, nimmt sich eine Limo heraus, schlendert durch die Wohnung. Ihr fröstelt, sie berührt die kalten Ofenkacheln, versucht sich Radatte hier vorzustellen. Nach einer Weile zieht sie sich an und geht auf die Straße.
Den Vormittag verbringt sie im Zeitkino, dann streift sie durch den Bahnhof, steht vor der Mitropa und sieht hinter der schweren Glastür ihre Mutter. Die Mutter trägt einen Minirock unter der weißen Schürze, in ihrer hochtoupierten Frisur steckt ein glitzernder Haarreif, und sie lächelt — diese Mutter kommt ihr unwirklich vor. Was würde geschehen, wenn sie ihr winken würde und laut rufen: Hallo, ich bin’s, deine Tochter. Sie will es lieber nicht darauf ankommen lassen.
Es ist Mittagszeit. An einem Kiosk lässt sie Schokolade und Kekse mitgehen, und als sie überlegt, sich noch einmal im Zeitkino aufzuwärmen, steht ein Polizist vor ihr. Sie gibt einen falschen Namen an, bleibt auch auf dem Bahnhofsrevier stur bei ihrer Behauptung, sie sei Mercedes, die Verlobte von Edmond Dantès.
Welche Geschichte hat sie sich denn diesmal ausgedacht, fragt die Dicke bei ihrer Ankunft in der Nebelgasse den Polizisten. Ihr fleischiges Gesicht bleibt ausdruckslos, als er ihr von dem falschen Namen erzählt.
Ich weiß, wie sie heißt, sagt sie und zieht spöttisch die Augenbrauen hoch, sie ist ein ganz schön ausgekochtes Luder.
Ein Luder, wiederholt der Polizist.
Wir sind also wieder einmal abgehauen, sagt die Dicke.
Sie antwortet nicht, nur ihr Magen gibt ein knurrendes Geräusch von sich.
Während die Dicke spricht, zerhackt ihr ausgestreckter Zeigefinger die Luft, als sei die Luft ihr persönlicher Feind.
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