Sie hat keine Ahnung gehabt, dass sie so viele Vorschriften übertreten hat, dass es überhaupt so viele Vorschriften gibt, sie nickt, als hätte sie verstanden, dabei will sie nur ihre Ruhe. Sie hasst die Dicke, sie spürt den Hass wie einen dumpfen Druck in ihrem Bauch.
Heiligabend sitzt sie auf der Pritsche, allein in einer Zelle, blasses Licht dringt durch das vergitterte Fenster, Weihnachtslieder schallen durch den Flur, sie möchte sich am liebsten die Ohren zuhalten. Das Essen hat sie nicht angerührt, einen Apfel und ein Stück Weihnachtsstollen. Sie hockt sich über den grauen Blecheimer und pinkelt, überhört die gedämpften Stimmen hinter der Tür, genauso versucht sie das Knurren in ihrem Magen zu überhören. Sie nimmt den Apfel vom Teller und wirft ihn an die Wand, betrachtet höhnisch den Fleck, den er auf der grauen Farbschicht hinterlassen hat. Den Weihnachtsstollen zerbröselt sie, verteilt die Krümel über den Boden. Sie spürt einen großen Zorn, stellt sich vor, ihrem Heimleiter ein Messer in den fetten Bauch zu rammen und die Dicke in tausend Teile zu zerhacken.
Als sie nach drei Tagen ihre Zelle verlassen und in den Mädchenschlafraum überwechseln darf, versucht sie gleichmütig zu wirken, doch es nützt ihr nichts, die Dicke zählt ihre Untaten auf, mit einem hämischen Lächeln, das ihr Scheitern schon festgeschrieben sieht, jetzt und in alle Ewigkeit. Dennoch fühlt sie sich der Dicken überlegen, schon deshalb, weil die Frau nichts davon ahnt, dass sie längst zerhackt und blutig auf dem Boden liegt. Laut pfeifend folgt sie ihr über den Flur, als wäre es ein verrückter Traum, in dem sie sich bewegt.
In der Silvesternacht stehen die Mädchen im Schlafraum der Nebelgasse vor den vergitterten Fenstern, von denen aus man nur die gegenüberliegenden Mauern sehen kann. Um Mitternacht stellen sie sich die bunten Lichtblitze am Himmel vor, umarmen sich, stoßen mit eingeschmuggelten kleinen Schnapsflaschen auf die Zukunft an. Später liegen sie nebeneinander im Bett, ein Mädchen bei einem anderen, flüsterndes Gekicher erfüllt den Raum. Ungeschickt erwidert sie die Küsse einer kurzhaarigen Blonden, fühlt deren weiche Brüste unter dem derben Baumwollstoff, hört eingeschüchtert die stöhnenden Laute, als das blonde Mädchen sich an sie presst, und versinkt in einem Gespinst aus Federn und Haken.
In den letzten Wintertagen scheint der Schulweg kein Ende zu nehmen, in der Luft liegt eisiger Frost. Den Ranzen auf dem Rücken atmet sie hinter vorgehaltenen Händen. Erst wenn die Schule vor ihnen auftaucht, beginnen die Kinder zu reden. Die Schule ist ein flacher Sechzigerjahrebau, die grau verputzten Wände sind mit weißen Friedenstauben verziert. Im Staatsbürgerkundeunterricht beginnt sie Fragen zu stellen. Warum muss sie auf einem ihr zugewiesenen Territorium leben und darf es nicht verlassen? Was hat sie verbrochen, dass sie nie den Rest der Welt sehen darf? Und warum bringen ihr diese Fragen einen Tadel ein? Die Fragen sind doch in ihrem Kopf und verschwinden nicht einfach, bloß weil sie nicht ausgesprochen werden dürfen. Das versucht sie dem Lehrer zu erklären, der aber sieht sie an, als wäre sie ein Wesen vom Mars.
Ständig bettelt sie ihre Klassenkameraden um Schulbrote an, selbst im Unterricht muss sie essen. Sie hat das Gefühl, dass die Lehrer sie mögen. Die Deutschlehrerin lobt ihre Aufsätze, der Sportlehrer kritisiert ihre Faulheit mit dem Hinweis, dass sie die Beste sein könnte, wenn sie nur wollte. Doch ein kleiner Dämon in ihr scheint verhindern zu wollen, dass sie sich in der Schule anstrengt.
Ihre Konzentration reicht nur für Bücher. Mit einer Begeisterung, die sie sonst für nichts anderes aufbringt, liest sie Hemingway, Zola und Balzac; fast schlafwandlerisch verbringt sie ihre Freizeit auf dem Sofa im Gruppenraum, taucht nur zum Essen und Schlafen aus den Romanen auf. Sie ist erschüttert von den Geschichten, liebt ihre Romanfiguren voller Zärtlichkeit.
In den ersten Frühlingstagen kommt ein neuer Junge ins Heim. Er hat eine athletische Figur, blonde Haare, braune Augen, und er kann zielsicher durch seine Zahnlücke spucken — alle Mädchen sind sofort in ihn verknallt. Andy ist eine Klasse über ihr, ihm eilt der Ruf voraus, Mitglied der Gang vom Knochenplatz zu sein. Sein Haar ist wild und zerzaust, als der Friseur ins Heim kommt, bringt er es fertig, dass es ihm im Nacken nicht ausrasiert wird. Mit Andy beginnt eine neue Ära. Er weiß, wann und wo im Radio die Stones zu hören sind, er besitzt Fotos seiner Lieblingssänger aus Westzeitschriften, Frank Zappa grinst so teuflisch, als würde er direkt aus der Hölle kommen. Selbst Mädchen, die bisher nur Schlager gehört haben, begeistern sich plötzlich für Smokie, Musik aus dem Osten ist fortan verpönt, kein Frank Schöbel mehr, keine Chris Dörk.
Auch in der Schule fällt Andy auf, er schlendert lässig in seinen Nietenhosen durch die Gänge und tut so, als würde er die Blicke der Mädchen nicht bemerken. Vielleicht bemerkt er sie ja wirklich nicht. Constanze kann das Klingeln kaum erwarten, in jeder Pause sucht sie nach ihm und heftet sich an seine Fersen. Natürlich hat sie längst herausgefunden, dass er im Kinderheim lebt. Mit dir zusammen, sagt sie, Rippchen, wie gut du es hast; sie kann es kaum fassen, dass jemand so viel Glück haben kann.
Obwohl Andy sie bisher noch nicht einmal wahrgenommen hat, nutzt sie die Situation aus und berichtet Constanze, wie sich ihr Auserwählter im Heim benimmt, sie erfindet Eigenarten, macht ihn zu einem romantischen Helden. Sie schafft es sogar, Andy einen Brief von Constanze zuzustecken, dem Brief ist ein Foto beigelegt. Das Foto scheint ihn zu interessieren, auf dem Schulweg fragt er sie, in welche Klasse die hübsche Blonde denn gehe. Trotzdem antwortet er Constanze erst nach zwei weiteren Briefen, seine hingekritzelten Sätze versetzen die Klassenschönste in Euphorie.
Sie darf Constanze zu Hause besuchen, lernt ihre Eltern, den Bruder kennen, den schwarz-weißen Mischlingshund. Aus Constanze wird Conny, und diese Conny wartet schon vor Schulbeginn auf sie. Weil sie Angst hat, diese exklusive Freundschaft zu verlieren, beschreibt sie Conny sehnsuchtsvolle, verliebte Seufzer, zu denen Andy niemals fähig wäre. Geduldig beantwortet sie Connys Fragen, doch ihre neue Freundin ist unersättlich, und so muss sie ihr jede Antwort wie ein Mantra wiederholen. Ja, er hat nach dir gefragt, sagt sie, während sie auf dem Schulhof mit ihr auf und ab geht. Sie will, dass sie mit Conny gesehen wird, sie will, dass alle sehen, wie erwartungsvoll Conny sie ansieht. Sie ist nicht mehr irgendwer, in ihrer Macht liegt es, die Klassenschönste zum Weinen zu bringen.
Als sich Andy dann das erste Mal mit Conny trifft, im Eisladen, ist sie dabei. Sie beobachtet die beiden, kommt sich ausgeschlossen vor, über einen Witz von Andy lacht sie übertrieben laut, obwohl sie den Witz nicht einmal verstanden hat. Später wertet sie mit Conny das Treffen bis ins kleinste Detail aus, und fast ist ihr, als wäre sie selbst von ihm geküsst worden, so genau kann sie sich nach Connys Beschreibung Andys sanfte, unwiderstehliche Lippen vorstellen.
Andy verliebt sich in Conny, und so steigt sie von der Kupplerin zur Vertrauten auf, überbringt Briefe und mündliche Botschaften, nimmt Anteil. Sie kann Conny nun täglich nach Hause begleiten, in ein Reihenhaus mit einem Vorgarten voller Krokusse. Sie essen Spaghetti in der holzgetäfelten Küche, schauen Fernsehen, führen gemeinsam den Hund aus. Connys Eltern arbeiten im Schichtdienst in der LPG, der Bruder ihrer Freundin geht auf die EOS, er ist genauso schön wie seine Schwester, und offenbar freut er sich über ihren Anblick. Wenn Bernd sie begrüßt, klingt Rippchen wie etwas Besonderes. Verlegen lässt sie sich von ihm durchs Haus führen, sein Zimmer erstaunt sie: Die Wände sind fast vollständig mit Indianerplakaten bedeckt, sie kann Winnetou erkennen und Old Shatterhand, im Regal stehen Bände von Karl May. Sie kennt keine Jungs, die Bücher lesen — sie ist beeindruckt.
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