Ein Marabu fesselte seine Aufmerksamkeit. Ein potthäßlicher Vogel, groß, mit einem Schnabel aus rostfarbenem Urgestein, den er vor die Brust gedrückt hielt, Kopf eingezogen, kahler dreckrosa Hals, ein scheußlicher Kehlsack, unappetitliche Härchen auf dem Kopf, aber sehr, sehr würdevoll als Gesamterscheinung. Wahrlich, ein Sekretär aus alten Zeiten, bewandert in der Kunst der Schönschrift, der Zurückhaltung und der Intrige, unter der Hemdbrust Schweißmief und Parfümmief von aberhundert Jahren. Gerhard hätte zu gern gehört, was für Laute der Marabu von sich gab; durch Gekecker und ein ziemlich albernes Ziwitsch versuchte er, ihm eine Antwort zu entlocken. Vergebens. Der Marabu blieb stumm, schlimmer, er wandte sich ab, gekränkt, und stolzierte von dannen.
Ihm waren zu viele Mütter mit Kindern unterwegs. Er wollte schon gehen, da zwang ihn der Platzregen, sich bei den Krokodilen unterzustellen. Die lagen regungslos herum, Augen und Nasenlöcher knapp über der Wasseroberfläche.
Als er ziemlich durchnäßt im Mauritztor eintraf, wartete Richard bereits auf ihn, fast eine Stunde zu früh. Er stand extra auf und faßte ihn zur Begrüßung an der Schulter. Merkwürdig, Richard war für gewöhnlich viel zu verdrossen für so eine Aktion, mit Begrüßungen trieb er keinerlei Aufwand.
Das Mauritztor war gerammelt voll. Der Laden wurde selten von Studenten frequentiert. Zu teuer. Sie hockten am Katzentisch. Schräg gegenüber, an der Fensterseite, saßen Dietmar Schönherr und Vivi Bach inmitten einer größeren Runde, Gerhard hatte die beiden direkt im Blick. Dietmar Schönherr war ihm sympathisch. Seine Mutter war in ihn verliebt gewesen. Als Kind hatte er ihn im Fernsehen gesehen, in einer Inszenierung des Guten Menschen von Sezuan . Aber als was bloß? Als einer der drei Götter? Als Shen Te oder als Shui Ta? Der Film hatte ihn wochenlang beschäftigt — wie war es möglich, gut zu bleiben in einer bösen Welt, der ganze marxistische Kram, beaufsichtigt von Göttern. Wenn Götter irgendwo auftauchten, konnte er gar nicht anders als hinschauen. Dietmar Schönherr hatte ihn schwer beeindruckt. Im Schlafanzug war er ins Wohnzimmer getapst. Dietmar Schönherr zu Ehren saß die Mutter in ihrem Seidenkleid auf dem Sofa, auf dem Tischchen neben ihr eine Flasche Eierlikör. Sie scheuchte ihn nicht weg, sondern bettete seinen Kopf auf ein Kissen, hüllte ihn in eine Decke, nahm seine Füße auf ihren Schoß, und gemeinsam sahen sie Dietmar Schönherr zu.
Weißt du es schon?
Gerhard wußte von nichts.
Richard winkte die Kellnerin herbei und bestellte ihm ein Bier. Auch das war höchst sonderbar, aber Gerhard ließ es fraglos geschehen.
Noch bevor das Bier kam, erzählte Richard. Er wußte ziemlich genau Bescheid, wo und wie und wann. Über Rena hatte sich die Nachricht schnell verbreitet.
Der Wasserverkäufer. Es gab doch einen Wasserverkäufer in dem Stück. Aber wozu war der da?
Nervös zwirbelte Richard einen Bierdeckel zwischen den Fingern. Gerhard blieb ruhig wie das Krokodil unter der Sumpfoberfläche. Seine Wangen zuckten nicht, das Herz machte keine Rösselsprünge. Als Richard eine Pause einlegte, sagte er bloß: Endlich ist Ruh’.
Mehr sagte er nicht, sondern supfte sorgsam das Schaumkäppchen von seinem Bier.
Richard wunderte sich. Er hatte Isa nie leiden können. Die Frau war ein Verhängnis, verwöhnt, hochgestochen, durchgedreht, ein dürftiges Miststück. Er wußte, wie sehr Gerhard an ihr hing, wie er sich zum Narren machte, um sich in ihrer Nähe zu halten, gutmütiger Trottel, der er war. Richard hatte immer wieder gegen Isa gestänkert, um seinen Freund von ihr loszueisen, war damit aber nicht weit gekommen und hatte schließlich aufgegeben. Seine Probleme mit Frauen waren ganz anderer Natur; die Frauen liefen ihm nach, und da waren ungleich anziehendere Exemplare darunter als Isa, aber ihm fiel es schwer, sich zu entscheiden.
Wang, hieß der Wasserverkäufer Wang? Drüben hob Schönherr das Glas und schickte einen Gruß in die Runde. Vivi Bach lehnte den hochblonden Kopf an seine Schulter. Jawohl, Wang. Und Schönherr hatte wahrscheinlich einen Gott gespielt; so eine wendige chinesische Flitzmaus hätte nicht zu ihm gepaßt.
Richard sah seinem Freund immer wieder in die Augen, um zu überprüfen, wie er es aufnahm. Daß sich Isa auf so übertriebene Weise umgebracht hatte, paßte zu ihr. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Daß sie sich hatte plattwalzen lassen, hatte ihn denn doch überrascht. In Richard rührte sich kein Mitleid; was ihn am meisten wunderte, war, daß sich in Gerhard offensichtlich auch keins rührte, nicht ein Funke, zumindest war ihm davon nichts anzumerken.
Richard hielt es für besser, unerwähnt zu lassen, daß er mit Isa einmal eine Nacht verbracht hatte. Eine anstrengende. Als er zu seiner berühmten Schmuckrede angehoben hatte, ein raunziges Verführungsblabla à la Dylan, mit gut kalkulierten Pausen, das er immer in Anschlag brachte, wenn er eine Frau aufriß, hatte sie ihn unterbrochen. Zack, Schnitt. Nichts mehr davon, wie er mit vierzehn Malcolm Lowrys Unter dem Vulkan zwischen die Finger bekam und das Paderborner Postbeamtensohnleben ein anderes wurde. Fhhhhhh. Seine alkoholische Flackerexistenz wurde ausgepustet und erlosch lautlos in ihm. Statt ihm zuzuhören und seine Verderbtheit zu bewundern, löcherte sie ihn mit ihrem Blumenbergstuß und setzte, um das Maß vollzumachen, gleich noch einen anderen Stuß obendrauf — Lacan! Sie wollte zu Lacan nach Paris, um dort bei ihm, und nur bei ihm, eine Analyse zu machen. Lacan war der einzige, der sich auf ihre Art von Verrücktheit verstand und sie von Blumenberg befreien konnte. Ihren Vater hatte sie schon überredet, ihr ein Appartement in Paris zu besorgen. Richard hatte ihr süffisant beigepflichtet: In Münster gebe es garantiert niemanden, der es mit ihrem Objekt klein a aufnehmen könne. Das war vor einem Jahr gewesen. Kurz darauf war Lacan gestorben.
Gerhard schien nicht versessen darauf, mit den unappetitlichen Details der Chose genauer bekannt zu werden. Tatsache, er lachte, als Richard die Firma Zapf erwähnte. Die Zapfisten waren tapfere Kerle, landauf, landab beliebt bei den Studenten, und jetzt hatte der Teufel es gewollt, daß die gute Isa, das Knopfmädel aus Heilbronn, von ihnen erledigt worden war.
Der Abend zog sich hin. Richard trank viel, Wodka und Bier, ihm war es längst zur Gewohnheit geworden, nachts mit Alkohol in die Zielgerade einzubiegen. Gerhard war ein bescheidener Trinker, aber heute langte er für seine Verhältnisse ziemlich zu. Der Höhepunkt kam, als Hansi Bitzer, das Gedichtmonster, den Laden betrat. Richard konnte ihn nicht riechen und verschanzte sich grantig hinter seinem Bier. Hansi steuerte auf ihren Tisch zu und baute sich vor Gerhard auf; Richard hätte ihn am liebsten erwürgt. Aus dem Lautsprecher tönte In The Air Tonight von Phil Collins, was Hansi aber nicht davon abhielt, sein verfluchtes Blatt auszupacken, eins dieser in durchsichtiges Plastik gehüllten Wichsblätter, das er aus seiner Akkordeonmappe zog, um mitten in das ätherische Halligalli von Collins und das allgemeine Schwatzgelärme hinein loszulegen, Gerhard direkt in die Ohren, nur für ihn loszukrächzen, loszuschnarren, und zwar mit –
Wohlan! so bin ich deiner los
Du freches, lüderliches Weib!
Fluch über deinen sündenvollen Schoß,
Fluch über deinen feilen geilen Leib,
Fluch über deine lüderlichen Brüste
Von Zucht und Wahrheit leer,
Von Schand und Lügen schwer,
Ein schmutzig Kissen aller eklen Lüste…
Jesusmariaundjosef! Das ging endlos so weiter, endlos, endlos. Eine Strafpredigt? Auf den armen Gerhard gemünzt, um ihn durch Zorn und Verachtung über seinen Verlust hinwegzutrösten? Gerhard hörte jedenfalls aufmerksam zu, kein Muskel in seinem Gesicht verriet, was er dachte. Nachdem Hansi geendigt hatte, langte er etwas zeremoniell nach seiner Brieftasche, holte einen glatten Zehner heraus, faltete ihn zweimal und legte ihn in Hansis Blechnapf. Hansi ließ es bei einer knappen Verbeugung bewenden, drehte sich um und ging, ohne einen Blick an Dietmar Schönherr zu verschwenden, hinaus.
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