Ein sympathischer alter Knacker. Er ging fortwährend hin und her, strich über die Lehnen der Sessel und hielt einen rührend feierlichen Vortrag über seine Kleine. Der Messias konnte nicht klüger gewesen sein als Kind, die Königin von Saba nicht liebreizender. Plötzlich bekam er einen verkniffenen Gesichtsausdruck, mußte sich abwenden, um lautlos in sich hineinzuschluchzen. In ein kariertes Taschentuch schneuzte er seine Pein.
Ihr Sessel stand weit vom Couchtisch entfernt. Sie raffte sich ein wenig hoch. Weiche, gedehnte Stimme wie ein feuchtes Läppchen: Bitte helfen Sie uns. Was war mit unserer Elisabeth los?
Gerhard mühte sich, einen passenden Einstieg zu finden. Seltsam sei sie gewesen, manchmal sogar mehr als seltsam. Exaltiert, ja, dann wieder merkwürdig ruhig. Alles in raschem Wechsel. Aber mit Drogen und Alkohol hatte sie nichts zu schaffen. Nichts Nennenswertes jedenfalls. Von Blumenberg –
Was war mit Blumenberg? unterbrach sie ihn. Sie soll ja völlig von ihm behext gewesen sein. Sagen Sie uns bitte, was war da genau los? Was wir von ihren Freundinnen wissen, klingt beunruhigend.
Nein, der Professor hatte sie gewiß nie berührt, nie und nimmer, hundertprozentig nicht; nicht einmal gesprochen hatte Isa je mit ihm. An eine echte Affäre glaubte kein Mensch. Wahrscheinlich wußte Blumenberg nicht einmal, daß sie bei ihm studierte. Sie war ja nie in seiner Sprechstunde gewesen.
Und es gibt da nichts, was Sie uns verschweigen? fragte der Vater unerwartet streng. Sie wollen den Professor doch nicht etwa schützen? Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß seine Elisabeth in einen Mann verliebt gewesen sein sollte, der sie nicht einmal bemerkt hatte. Ausgeschlossen. Sein Spatzl verdrehte aller Welt den Kopf, aber doch nicht umgekehrt.
Und sonst? Da muß doch was gewesen sein. In Isas Mutter ging alles durcheinander, aber langsam, zäh. Das waren wohl die Medikamente.
Er kam sich wie ein schlechter Psychologe vor, versagte kläglich. Faselte von Instabilität, Gemütsschwankungen, zur Schau gestellter Abwesenheit, immer wieder war sie weg, weit, weit weg. Schwer zu sagen, was wirklich in ihr vorging. Aber keine dramatischen Vorkommnisse, von denen er gewußt hätte.
Ein breiter Raum mit niedriger Decke. Vor der Fensterfront zog sich von einer Wand zur anderen eine ewiglange Konsole, auf der eine stattliche Messinguhr stand, in deren Glasgehäuse ein gläsernes Pendel schlug, und zwei chinesische Vasen, behütet von cremefarbenen Lampenschirmen. Überall Teppiche. Das viersitzige beigefarbene Sofa, auf dem er allein saß, drei beigefarbene Sessel. An der Rückwand ein querhängender Propeller aus Holz von einem alten Flugzeug. Längs eine Bücherwand mit Kunstbänden, Vasen, Krimskrams, einem Miniaturdavid von Michelangelo, Sachbüchern und einigen Romanen, Grass, Walser, wie er im Vorbeigehen gesehen hatte, Vom Winde verweht, Wer die Nachtigall stört . Gediegen ja, protzig definitiv nicht.
Stille breitete sich aus, in die hinein die Pendeluhr auf der Konsole schlug, dreimal, viermal, fünfmal. Es hörte sich laut an, als Gerhard den Aschenbecherdeckel zuschnappen ließ.
Sagen Sie noch was, bitte hören Sie nicht auf zu erzählen. Das klang wie ein Flehen. Die Mutter wollte der Stille entkommen, vielleicht wollte sie bloß von einer anderen Stimme beruhigt werden; es war nicht sicher, ob sie ihm überhaupt zuhörte. Ihre hellbraunen Seidenaugen, glasig von zuviel oder zuwenig an Gefühl, glitten immer wieder ins Leere.
Er fühlte sich ausgeglüht, als hätte man mit einem Flammenwerfer auf seinen Schädel gezielt. Jetzt hockte er da mit einem Haufen Asche im Hirn. Es brauchte Empfindungen, um gut zu denken, Empfindungen, um etwas Präzises zu sagen. Ihm fiel bloß ein, wie Isa ihn einmal angeschrien hatte: Fick dich ins Knie! Überschnappend laut. Bilder von Knochenmatsch und blutigen weißen Kleidfetzen trudelten vor seinem inneren Auge umher. Ein Meteor schlug durch die Decke und landete rauchend auf dem Teppich. Das konnte er Isas Eltern unmöglich servieren. Was er von ihrem Leben in der Wohngemeinschaft erzählte, kam ihm so schlapp vor, als hätten dort Leute aus Pappe gewohnt, in Pappmöbeln in einer Pappwohnung mit einem Pappkater, und während er einen Pappendeckelgedanken an den anderen reihte, wurde es sechs Uhr und Zeit zu gehen.
Was geschehen war, erfuhr Blumenberg am übernächsten Tag aus der Zeitung, blieb aber ahnungslos, welche Rolle er in dem Drama gespielt hatte. Zwar wurde auch unter den Kollegen an der Universität über den Fall geredet, weil er aber nie direkten Kontakt zu seiner Studentin gehabt hatte und nicht einmal ihren Namen kannte, brachte er die Tragödie nicht mit der jungen Frau in Verbindung, die, eine etwas leibarme Erscheinung, immer aufrecht in der ersten Reihe gesessen hatte, fragte sich auch nicht, weshalb sie plötzlich verschwunden war und nie wieder auftauchte.
Er bestritt die Nacht und abermals die Nacht mit Lesen, Karteikarten-Anlegen und Diktieren. Um ihn her war es wieder ruhiger geworden. Er hatte zum gewohnten Maß, sogar zu einem Übermaß an Arbeit zurückgefunden. Der Löwe war ihm inzwischen unentbehrlich geworden. Umgekehrt schien der Löwe sich auch an ihn gewöhnt zu haben. Wie ein alter Haushund schlief er entspannt auf dem Teppich und hob nur selten den Kopf, um die Lage zu überprüfen. Er war auch nicht von Auszehrung befallen, wurde nicht zu Haut und Knochen. Alt zwar, aber sonst wie eh und je.
Heute war Vollmond. Sein von der Sonne geborgtes Licht besorgte eine sanfte Überglänzung von Büschen und Bäumen. Wenn Blumenberg aus dem Fenster sah, begann, ganz wie Schopenhauer es formuliert hatte, sein Wille aus dem Bewußtsein zu schwinden und eine Ruhe des Herzens einzutreten, die sonst schwer zu erlangen war. Das milde Mondlicht war schön, weil der Mond den Menschen nichts angeht. Wurde ihm zugetraut, das Weltauge eines Gottes zu sein, so blickte dieses Auge nachsichtig und gleichgültig auf die Erde herab.
Wenn er den Mond sah, kamen ihm unweigerlich die berühmten Verse von Matthias Claudius in den Sinn, er summte sie im Inneren zu den sich automatisch einstellenden Wörtern mit, besonders liebte er:
Der Wald steht schwarz und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Der Mond, der schwarze, schweigende Wald wurden in die menschliche Lebenswelt gezogen, durch die Kraft der Metapher konnten sie darin mit hoher Intensität Wurzeln schlagen, sich sinngebend einwohnen, gleichgültig, ob ein Mensch je im schwarzen Wald herumgeirrt war oder nicht. Die zweite Strophe von Claudius’ Lied war auf ihn gemünzt, sie war seine ureigene Strophe, sie umfaßte sein Gehäusleben, wiewohl das in ihr beschworene Verschlafen sich in der Regel nicht einstellen wollte:
Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold.
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Und doch. Und doch. Sobald er sich vom Fenster abwandte, mußte Blumenberg zugeben, daß er in seinem Zimmer unter einem wirksameren Einfluß stand als dem des Mondes, einem gewaltigen sogar, der ihn aus einer Welt zog, in welcher Erfahrungstatsachen galten, durchdrungen und erfaßt von logischem Denken. Umformung der Materie in die reine Erscheinung unter Wegziehung aller Substanzen, die gemeinhin zur Materie gehörten, gab es das? Konnte es so etwas überhaupt geben? Manchmal überkam ihn das Mißtrauen, daß all die Worte, die er Nacht für Nacht auf die geduldig fortrückenden Bänder der Stenorette sprach, tote Worte waren, tot, tot, tot, weil sie für das Wesen auf dem Teppich nicht galten.
Er liebte seinen Löwen. Nicht viel anders, als ein Kind seinen Hund liebt. Ihm kam das zauberhafte Photo von Glenn Gould in den Sinn, als schöner Jüngling mit seinem schwarzweiß gefleckten Hund am Flügel sitzend, ein ebenfalls schöner Hund, der die Pfoten neben den Fingern des Pianisten auf den Tasten hat und konzentriert in die aufgeschlagenen Noten blickt. Die beiden erweckten den Eindruck, als spielten sie zusammen, ja, als würde Glenn Gould überhaupt nur gelingen, was ihm gelang, weil der Hund mittat.
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