Sein Löwe war weniger gutmütig und weniger possenhaft veranlagt, dafür ein mächtiger Beschützer. Eine Traumgeburt von so unbedingter Präsenz, daß er an ihre Flanke gelehnt für immer in den endgültigen Schlaf hätte gleiten mögen.
Aber nein. Kein Traum. Der Löwe war am Ende ein so freies und unbedingtes Wesen, daß ihm das Recht, zu sein, was er ausdrückte zu sein, nicht streitig gemacht werden konnte. Die Seinszufriedenheit drang in selbstleuchtender Projektion aus seinem schon etwas fadenscheinig gewordenen Löwenkostüm hervor; es hatte keinen Sinn, das, was auf dem Teppich sich zeigte, mit immer neuen Zweifeln zu berennen. Der große Einfädler und Knotenwirrer hatte — wenn es IHN denn gab, ewig und unvernommen, aber im Geheimen wirksam — in dieser sagenhaft löwenähnlichen, von einem wirklichen Löwen vielleicht nur durch die Handprobe zu unterscheidenden Chimäre einen ganz besonderen Prachtknoten geschürzt. Erfreue dich an ihm, hieß die Devise, schicke dich drein und genieße den Kraftstrom, der sich zu deinen Füßen erhebt und dich umhüllt.
Der Handprobe hatte sich Blumenberg nach wie vor enthalten. Zartdünne Berührpunkte existierten zwischen ihm und dem Löwen auch so. Ohne seine Einbildungskraft sonderlich anzustrengen, spürte er das Fell des Löwen an seiner Wange, spürte er die Tatze des Löwen auf seiner Schulter. Fühlte er solchen Kontakt, war er dem Zwang zur radikalen Selbstverfügung enthoben. Von der Enthärtung der physischen Wirklichkeit bei unverwandt in die Erscheinung hineinblühendem Sein ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. Nicht, daß er für gar nichts mehr verantwortlich gemacht werden konnte, aber was ihm auferlegt worden war, wog nun leicht, flaumleicht wie die Brustdecke eines Spatzenkindes.
Obwohl — manchmal, wenn er in Gedanken war und vom Tisch aufsah, erschrak er fast wie beim ersten Mal. Die Ungeheuerlichkeit des Löwen kehrte dann mit voller Wucht zurück. Ein Löwe! Ein Wunder! Ein Löwe! Zwar beruhigte sich sein Herz schnell, aber seine Gedanken gerieten ins Trudeln, und ein Gefühl, das zwischen Angst und Entzücken hin- und herschwankte, ließ ihn mit leicht gerunzelter Stirn nach oben schauen, wo sich allerdings nur die Decke befand und keine Himmelsschneise. Ob vielleicht doch alles, was er schrieb und dachte, von oben beäugt, kommentiert, überwacht wurde? Ob über ihm als Nachtwächter eine andere Nacht Wache hielt, mit durchdringender Intelligenz begabt, die ihm den Löwen zu Ermunterungszwecken geschickt hatte, vielleicht aber auch, damit endlich klarer, rücksichtsloser, entschiedener geschrieben wurde, damit er Risiken einging und sein Äußerstes zu Papier brachte?
In solchen Momenten sah er sich selbst die Peitsche schwingen und eine Schar Theologen vor sich hertreiben. Ihm wuchs ein Löwengebiß. Das Isaakopfer! Harrrrrrr! Gott hatte das Opfer nicht als Warnung für den Menschen, damit er sich von solchem Opfer abkehre, von seinen Banden erlöst, nein, nicht zu menschlichen Sittigungszwecken mußte der Widder als Stellvertreter herhalten, ER hatte das Isaakopfer vielmehr verschmäht , weil es zu gering war. Isaak, der kleine Wicht, der unbedeutende Sohn, viel zu unbedeutend für ein Gottesopfer. ER hatte auf das größere Opfer geharrt, ja, nach ihm gelechzt, ER hatte es auf das Opfer des eigenen Sohnes abgesehen! Aber warum? Um dem göttlichen Gemütsallerlei, das bisher allenfalls den Zorn und den Eifer kannte, den Schmerz hinzuzufügen, um selbst ins Leiden zu geraten und so etwas wie Vaterschmerz zu fühlen? Ihm kam die Alabaster-Trinität von Hans Multscher in den Sinn, das Gottvatergesicht entsetzt, entsetzt über das Angerichtete.
Oder: wenn in der Passion der Barabbas-Ruf ertönte, so hieß das auf aramäisch nichts anderes als Bar-Abbas, Sohn des Vaters , und damit hätten die Juden Jesus, ihren König, aus den Händen des Pilatus zurückverlangt und ihm die Treue gehalten. Entgegengesetzt zu der verhängnisvollen Deutung, die darin den Ruf nach Freilösung eines Verbrechers gehört haben wollte.
Wenn ihn solche Gedanken überkamen, fühlte er, wie das Blut frisch durch seine Adern strömte; alles in ihm kribbelte und zirkulierte auf Teufel komm raus. Es hielt ihn dann kaum auf seinem Stuhl, er mußte im Zimmer herumwandern oder sich für eine Weile an das Stehpult stellen und Kniebeugen machen, allerdings im gehörigen Abstand zum Löwen, wodurch der Bewegungsspielraum ziemlich eingeschränkt war, Löwe, der bei solchen Manövern immerhin den Kopf hob und ihn — es kam ihm jedenfalls so vor — leicht besorgt — oder war es eher ironisch? — aus verwunderten Löwenaugen ansah. Ein, zwei Mal war es sogar schon vorgekommen, daß er sich selbst Krallen und Tatzen statt Hände und Fingernägel an den muskelgeschwellten, fellbezogenen Leib gewünscht hatte, um sich mit dem Löwen eine Mordsbalgerei zu liefern. Himmlisch, mit einem Löwen zu brüllen und zu röhren und spielerisch das Gebiß in seine Flanke zu schlagen; es zuckten ihm förmlich die Hände, um das Krallenwachstum hervorzulocken. Ein wenig fellhaft war er ja selbst; wenn er auf seine zierlichen Hände blickte und dann auf die Haare, die unter den zurückgeschobenen Strickbünden hervorquollen, kam er sich löwennah vor.
Einmal hatte er vor einem Käfig gestanden und Löwe und Löwin bei der Begattung zugesehen. Aus nächster Nähe. Ein ungeheures Schauspiel, eine Zumutung für die Ohren. Das Gebrüll hallte von den gekachelten Wänden in solcher Stärke wider, daß er sich schützend die Hände auf die Ohren legen mußte. Der Löwe war jung, in seinen besten Jahren, ein prachtvolles Tier, das aus seinem innersten Mark heraus brüllte. Das glänzende Fell, das Spiel der Muskeln — hinreißend. Angsterregend zugleich. Tatzenschläge, Nackenbisse. Die Löwin wurde machtvoll niedergedrückt. Gewalttätig war’s, obszön, bei weitem alles übersteigend, was an Triebkraft in einem Menschen steckte. Blumenberg erschauerte und ertrug den Anblick nicht lang. Zwei Kinder standen neben ihm und sahen dem Schauspiel starr wie kleine Salzsäulen, mit offenen Mündern zu.
Sobald er sich beruhigt hatte und wieder auf seinem Stuhl saß, wurde er heiter und sehr, sehr friedlich. Die Himmelsflucht, aus der der Löwe herabgeströmt war, um sich als täuschend echte Erscheinung zurechtzukomponieren und in natürlicher Anmutung auf dem Teppich zu dösen, war dazu da, sein, Blumenbergs, Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen.
Die Nacht lud ein zur Erinnerung. Mit dem Zurückweichen und Verstummen aller vordringlichen Geräusche trat das Untergegangene hervor und geriet vor die inneren Sinnesorgane. Aber der Löwe sorgte dafür, daß es ohne Angst geschah. Frühmorgens, wenn seine Stimme nicht mehr im Kontakt mit der Stenorette den Raum füllte, war er regelmäßig ins Lager Zerbst zurückgekehrt. Totentanzgetreibe. Nicht ganz zerlöst, rückte es jetzt in leichterer Schwebmanier heran. Er lag nicht mehr zittrig, hungrig, schweißkalt auf einer verwanzten Holzpritsche. Er roch nicht mehr den atemverschlagenden Gestank. Der Löwe beschützte ihn vor der Todesfurcht. Der Löwe führte Heinrich Dräger heran, den Lübecker Fabrikanten, der ihn vom Lager errettet und später sein Studium finanziert hatte. Die klugen Augen Drägers ruhten auf ihm. Tauchretter, Höhenatmer und Heeresatmer waren in den Dräger-Werken hergestellt worden. Es atmete sich schwer in jener Zeit. Was vom Lager übriggeblieben war, mußte den Löwen als Wächter passieren; der sorgte für eine Rückschau in bekömmlichen Maßen. Etwas Vogelflaum hing vielleicht am Stacheldraht, aber kein zerschundener Menschenleib. Der Draht selbst war zu einem Hakenmuster geworden, an dem sich kein Körper mehr zerfleischen konnte. Organisation Todt. Ging der Name durch den Löwen hindurch, verlor er seine böse Strahlkraft. Startbahnbau für Düsenflieger. Plattengießen für die Autobahn. Er mußte keine Fugen mehr verfüllen. Torfstechen. Er mußte nicht mehr Torf stechen. Seine Hände waren nicht mehr aufgerissen und blutig. Was er jetzt auf die Schaufel nahm, wog leicht. Leichtwiegende Papiere, auf denen er die Pathien der Zeit erforschte. Mischling ersten Grades. Die böse Bezeichnung war harmlos geworden. Die drei Schwestern seiner Mutter, die in Theresienstadt ermordet worden waren, auch seine Lieblingstante Laura, sie wiesen nicht mehr auf ihn als einen, der sein Leben in Ruhe genießen durfte. Was im Schatten lag, nahm teil am umhüllenden Atem der Luft, und die vom Leben Gelösten flohen weiter in die sich zudunkelnde Luft hinein.
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