Was erlaubt der sich eigentlich?
Richard sah sich in der Pflicht, seinen Freund im nachhinein zu beschützen, aber da kannte er seinen Gerhard, den lieben, guten alten Gerhard, schlecht: Schneidst du den Hals dir ab, Und springst du in die Spree, Du findest nie ein Grab, Die Spreu schwimmt in der Höh , zitierte der fröhlich glucksend, das hat doch Klasse, das ist die ganz, ganz große, die übergroße Gewichtsklasse, Schwergewichtgedichtklasse — er kam ins Kichern und verschluckte etwas vom Bier —, so was traut sich doch heute keiner mehr von unseren saftlosen kreuzbraven Dichtersäcken. Rühmkorf etwa? Häh? Gernhardt?!
Richard mußte grinsen, aber er blieb besorgt und beschloß, seinen Freund während der Nacht nicht aus den Augen zu lassen. Der Grund, weshalb er sich mit ihm verabredet hatte, kam gar nicht zur Sprache. Richard wollte zwei Semester sausen lassen und auf große Fahrt gehen, nach Südamerika.
Die Eltern erfuhren es von einem Heilbronner Beamten, der noch am selben Abend vor ihrer Haustür stand. Sie wollten es nicht glauben, wollten Beweise, riefen verzweifelt in der Wohnung ihrer Tochter an, bekamen aber nur die schluchzende Biggi an den Apparat, versteinten.
Lange konnten sie sich nicht aus der Erstarrung lösen. Außen kalt. Innen heiß. In ihren Köpfen raste es. Immer wieder tauchte darin der süße Fratz auf, das Spatzl. Sie hatten schon mit viel Bösem gerechnet, damit nicht. Wie? Ihre Kleine, der sie doch alles gegeben hatten, was Eltern einem Kind geben konnten, machte so was? Hatte sie das getan, um die Eltern zu vernichten? Aber was für eine Schuld hatten sie auf sich geladen, daß sie eine so fürchterliche Quittung verdient hatten? War Elisabeth im Drogenrausch gewesen? Das war doch nicht ihr Kind, wie sie es kannten. Vielleicht waren sie zu wenig streng mit dem Kind gewesen, die beiden Buben hatten sie strenger gehalten, aber deswegen brachte man sich doch nicht um, noch dazu auf eine so fürchterliche Weise, an die zu denken sie sich weigerten, ausgerechnet ihre Jüngste, so ein lustiger, kluger Wildfang, dem alles leichtfiel, der Kindergarten, die Schule, sogar die Tanzstunde, und das war ja weißgott für jeden jungen Menschen ein Krampf, und die Universität doch erst recht. Selbst in der Pubertät hatte ihr Spatzl niedlich ausgesehen, nicht pickelübersät wie die beiden anderen Kinder. Und sie durfte alles machen, was sie wollte, sie hatten ihr niemals dreingeredet, welches Fach sie studieren sollte. Philosophie, das klang interessant, wenn sie auch nicht recht wußten, wozu so ein Studium gut sein sollte, wenn Elisabeth es so wollte, in Ordnung, dann sollte sie ihren Willen haben. Wo kam das bloß her? Ihre Ehe war doch nicht schlecht, sie hatten die Kinder nie mit Problemen belästigt, die sie selber hatten. Kam das von Onkel Willi? Aber Willi war im Krieg gewesen und hatte sich danach nicht mehr zurechtgefunden, das war doch ein Kriegsschaden. Woher also, woher?
Die Beerdigung fand zehn Tage später auf dem Heilbronner Hauptfriedhof statt. Der evangelische Pfarrer machte seine Sache gut, obwohl da nichts gutzumachen war. Man merkte seiner Stimme an, daß er selbst ratlos war. Er hatte Elisabeth im Konfirmandenunterricht gehabt und erinnerte sich genau an das Mädchen; schlau war sie gewesen, unberechenbar, lebhaft, dabei ziemlich ernst für so ein junges Ding. Konnte ungemütliche Fragen stellen, die direkt ins dornige Dickicht der theologischen Logik zielten. Dem Pfarrer blieb nichts anderes übrig, als ihren Tod als Rätsel stehenzulassen und keinen allzu salbenden Nachdruck auf seine Verse voll Barmherzigkeit zu legen. Kaum möglich, den Eltern etwas von ihrer Last zu nehmen. Steif wie zwei Kerzen, eine lange, eine kurze, saßen sie in der ersten Reihe.
Gerhard hatte sich dem Trauerzug hinten angeschlossen. Den braunen Sarg, der von den schwarzuniformierten Trägern etwas schief gehalten wurde, die mitgeschleppten Kränze — was er sah, konnte er nicht mit Isa in Verbindung bringen. Wie wenig das, was da drin liegen mochte, Isa glich. Sie war definitiv nicht in den freundbesiedelten Schlaf geglitten. Kurzen Prozeß hatte sie gemacht, Puppe kaputt. Doppelt und dreifach.
Es war nicht so, als wäre die Liebe seines Lebens dahingegangen und er müßte nun in Trauer vergehen. Isa war ihm auf einen Schlag fremd geworden, abschreckend fremd. Er war gefoppt worden von einem grausamen Geist, der sich als junges Mädchen verkleidet hatte. Er fühlte einen schrecklichen Durst. Es überfiel ihn ein Husten, der ihm das Wasser aus den Augen trieb. Runzliges Äffchengesicht, vom Jackenärmel trockengewischt, zerfurcht die glatten Wangen, die glatte Stirn. Isa oder das, was von ihr noch da war, sah ihm dabei zu. Isas Meerwasseraugen schauten das Äffchen mitleidig an. Eine düstere Verzückung breitete sich in ihm aus. Er fuhr mit der Hand über einen Buchsbaum und kniff ein Blatt ab. Emsige Spatzen darunter, pick, pick, pick. Zwei dicke mit Kinderflaum vor der Brust. Seelchen, die schneller sterben, als sie schlüpfen. Isas Patschhände kamen ihm in den Sinn — stets bereit, sich zurückzuziehen. Doch, sie war’s, die Liebe seines Lebens, Springsteens Suicide Machine . Sie saß ihm in den Knochen. Bereitwilliges Kußgeflatter in seinem Kopf, ein Lechzen ohne Sinn und Zweck. Er wünschte sich in das verfluchte Eisenbett zurück. Aber vielleicht war es besser, wenn eine derart herrschsüchtige Liebe rabiat aus den Knochen vertrieben wurde. Man sollte gut, gewissenhaft, vernünftig lieben, den kleinen Frieden, das kleine Glück suchen. Er würde nicht ewig in seinem Leid schmoren. Er war lebendig, und die Toten lagen stumm in ihren Gräbern oder standen im Durchgang Richtung Nirgendwo.
Unter drei hohen Tannen kam der Zug zum Stillstand. Mehrere Schubkarren abgestellt am Seitenpfad. Ein Augenfalterpärchen verschwand in ihrem Schatten. Kleine Nebenbemerkung: er war lächerlich seriös angezogen. Seine Schuhe drückten.
Anderntags empfingen ihn die Eltern in ihrem Haus. Um Gotteswillen, warum hatte ihnen Elisabeth diesen tüchtigen lieben Menschen, den sie sofort ins Herz schlossen, soweit sie das noch verkraften konnten, nicht vorgestellt? Sie hätten doch alles dafür getan, damit sich Gerhard bei ihnen wohl fühlte, und hätten — natürlich dezent, man durfte sich ja nicht allzu sehr einmischen — Elisabeth zu verstehen gegeben, daß er der Richtige für sie war; aus Gerhard würde noch etwas werden, das merkte der alte Kurz schnell, und Geld spielte ja sowieso keine Rolle, Geld hatten sie selber genug.
Als Gerhard das geräumige Haus betrat, in dem die Eltern wie einsame verschüchterte Vögel herumstanden, kaum fähig, ihm mit fester Stimme einen Platz auf dem Sofa anzubieten — wie stark zitterte die Hand der Mutter, als sie sie vorstreckte, um ihm eine Tasse Tee einzuschenken und ein blumenverziertes Tellerchen mit Mürbegebäck in seine Nähe zu rücken —, verstand er Isa noch weniger.
Sie war elfenklein, ganz zart. Kompostfarbene Schühchen, Größe 34.
Zucker?
Nein danke, ohne.
Kalte, hochmütige, protzige Leute hatte er erwartet, aber sie waren anders. Das waren keine Eltern, die ihren Kindern die Hölle bereiteten, das waren verständige Leute, denen alles entrissen worden war, woran sie geglaubt hatten. Ihre Gesichter hatten die Farbe eingelegter Artischockenherzen. Sie waren bemüht, vernünftig zu erscheinen, und sahen ihn mit schüchterner Erwartung an, der Vater mit Isas Meerwasseraugen, die Mutter wie in Trance. Hatten sie geglaubt, daß er als Rächer ihrer Tochter über sie kommen und ihnen eine Strafpredigt halten würde? Er wußte selbst nicht, was er hier wollte, kam sich wie ein Eindringling vor.
Auf dem Riesensofa war’s schwer, richtig zu sitzen, mit krummem Finger bohrte er nach einer Zigarette in der leeren Päckchenhülle, die er samt Fusselwürsten aus der Hosentasche gebracht hatte, bis ihn der alte Kurz erlöste, indem er ihm eine Roth-Händle anbot und das Feuerzeug aufschnappen ließ. Beim Aschenbecher drückte man oben auf einen Knopf, der Deckel verschob sich, dann versenkte man die Asche in seinen schwarzen Bauch.
Читать дальше