Im Gepäck führte er den Josephsroman von Thomas Mann mit, den er in der Vorfreude auf Ägypten zum dritten Mal, nachts in der Kabine beim Hin und Her der Wellen, mit neuen Augen las.
Im Meer war das Gestaltlose zu Hause. Die antiken Philosophen hatten vor dem Meer gewarnt, über das der unbezähmbare Poseidon herrschte, sie hatten gewarnt vor der Verfehlung, wenn sich der Mensch ins Ungemäße und Maßlose hinauswagte, mit Ländern und Völkern in Verbindung geriet, die eine weise Vorsehung getrennt hatte. Auch die Bibel kannte dieses grundlegende Mißtrauen gegenüber dem Meer; nur in ihm glühte kein Fünkchen Skepsis: er liebte das Meer. Und die kleine Schar an Gästen, die sich auf dem Frachtschiff zusammengefunden hatte, außer ihnen bestehend aus einem holländischen Paar, zwei Franzosen, einem englischen Diplomaten und einem deutschen Geschäftsmann, bewirkte in ihm eine Auflockerung, ein selten erlebtes Freiheitsgefühl.
Seine heitere Stimmung hielt während der Zusammenkünfte in der Kapitänsmesse vor. Er aß mit Vergnügen, war herrlich beschwipst, keine Sekunde seekrank und wurde zum begehrten Amüsiertalent für die Gäste, die neugierig geworden waren auf den feurigen jungen Professor, der so klug und witzig daherschwadronierte.
Mit dem Freund verstand er sich ausgezeichnet. Sie sprachen über Musik, über Benedetti Michelangelis Abenteuer als Pilot und Rennfahrer, sprachen über die Zukunft der Technik, über den Enthusiasmus und die Dämonisierung, die ihr entgegengebracht wurden, was den stetigen Gang ihres Fortschreitens wenig hinderte. Sie waren beide Motornarren; mit der Leidenschaft von Kindern, die Autoquartett spielten, konnten sie über die Leistungen von Fahrzeugen fachsimpeln, selbst auf dem Meer, wo der Mercedes keinen Meter weit fuhr, sondern festgezurrt im Bauch des Schiffes ruhte. Der Chauffeur seines Vaters hatte ihm früh beigebracht, wie man einen Wagen fuhr. Einen Horch 670 Zwölfzylinder. Von diesen jungen Tagen rührte seine Autoleidenschaft her. Jetzt freute er sich darauf, im Wechsel mit dem Freund den Mercedes durch ein unbekanntes Land zu steuern.
Zwar kannte er Venedig und Florenz, nicht aber Genua. Die Stadt war eine Sensation unter blitzblauem Himmel, steil den Berg hinaufkletternd. Unten, vom Hafen aus gesehen, ein Prachtstück, das vor Stolz schier aus den Nähten platzte, emporgebracht von kaufmännischem Handelsgeschick, das zur Grandezza der italienischen Architektur soviel beigetragen hatte.
Der Tonarm hatte sich inzwischen wieder in die Ruheposition zurückgezogen. Blumenberg hatte gar nicht beachtet, daß die Musik verklungen war, so sehr erfüllte ihn die Erinnerung an das ägyptische Abenteuer.
Alexandria. Flach bebaut, mit einzelnen Hochhäusern, die sich noch in der Konstruktion befanden, gleißend hell, eine langgezogene Küstenbesiedelung, ein Gewirr von Menschen, Läden, Restaurants, großen und kleinen Booten, separat davon die Kriegsflotte. Kurz vor Ausbruch der Suezkrise waren sie in Ägypten gelandet, in den Monaten, in denen es im inneren Ägypten brutheiß werden konnte, fünfundvierzig Grad und mehr. Im Land des Gamal Abdel Nasser waren sie angekommen. Mit prominenter Nase und elegant ergrauten Schläfen sah der großgewachsene Offizier aus wie ein Schauspieler. Zwei Jahre erst war der schlaue Fuchs an der Macht. Er haßte die Juden, Panarabismus sein Zauberwort, mit dem er sich zum Führer der arabischen Welt aufschwang.
Wiederum an Seilen schwebend, war der Mercedes sacht auf dem Festland abgesetzt worden, und — technisches Präzisionswerk, auf das Verlaß war — er sprang sofort an, als der Freund den Zündschlüssel im Schloß drehte und den schwarzen Bakelitknopf zum Starten drückte. Der Wagen hatte an den klimatischen Veränderungen nicht gelitten, die ihm in den letzten beiden Wochen zugemutet worden waren. Nun glänzte er unter der ägyptischen Sonne und war bereit, seinen Dienst wiederaufzunehmen.
Kairo übertraf alles, was Blumenberg sich ausgemalt und durch Reiseführer in Erfahrung hatte bringen können. Sie übernachteten im Mena House, im alten Palasthotel inmitten einer riesigen Gartenanlage, mit direktem Blick auf die Pyramiden. Sein Herz machte Freudensprünge, als er seine Suite betrat. Das waren westöstliche Zauberzimmer — mit dem englischen Luxus im Bad, den exquisiten Antiquitäten, dem orientalischen Gitterwerk vor den Fenstern, wo auf Bänken und Diwanen üppig bestickte Paradekissen verstreut lagen.
Er langte nach seinem Kissen, das sich unter seinem Kopf zu einer harten Wurst verformt hatte, und boxte es sich neu zurecht.
Das Mena House. Englisch war das Frühstück, das hier serviert wurde. Englisch der Tee, der von Fortnum & Mason aus London importiert wurde. Englisch gedrillt waren die Kellner. Orientalisch die Palmen in üppig verzierten Kübeln. Hier hatte er sich endlich wieder in seinem Element gefühlt, als Sohn eines Kunst- und Antiquitätenhändlers, der nach den kargen Nachkriegsjahren wieder einen Luxus genießen durfte, wie er ihn vor Jahrzehnten als Kind umgeben hatte, wenn auch in anderer Form. Vom Hotel aus gesehen hüllte sich das morgendliche Kairo in einen Dunst; die Stadt dünstete rosagraue Schleier aus, die wie eine Haube auf ihr hockten, und diese Haube hob sich — wenn überhaupt — erst um die Mittagszeit.
Den Mercedes vom Hotel nach Kairo hineinzulenken war ein Abenteuer. Als die Erinnerungen daran durch seinen Kopf zogen, wurden Blumenbergs Finger sogleich willig, sich wieder ums Steuerrad zu schließen. Wer irgend sich bewegen konnte, was irgend bewegt werden konnte, drängte sich auf den Straßen. Kamelreiter, flinke Topolinos, schwere russische Staatskarossen, Eselkarren, Pferdekarren, Lastwagen mit Auspuffen, die höllische schwarze Wolken ausstießen, Kleinbusse, Schafherden, Lastträger mit vorgeschnallten Bauchläden oder Säcken auf den Schultern. Es war eine Herausforderung, vorsichtig um alles, was sich da bewegte, herumzukurven und dabei den Gegenverkehr im Auge zu behalten, bei dem es ähnlich chaotisch zuging.
Von nahem betrachtet war auch das arme, gewöhnliche Kairo spektakulär. Noch im Hotel gelangten sie in die Obhut eines gebildeten Reiseführers, der exzellent Englisch sprach und ihnen rasch ans Herz wuchs, Hassan, der sie die ganzen Monate über begleitete. Diesen Führer hatte der Freund durch seine geschäftlichen Verbindungen in alle Welt im vorhinein ausgewählt und sich verpflichtet. Hassan war ein blitzgescheiter junger Mann aus wohlhabender Familie. Gekleidet in seine weiße Galabiya, führte er sie mitten ins Gewimmel der Stadt, ein labyrinthisches Gewirr, in dem jeder Fleck ausgenutzt und besetzt war von Handeltreibenden, von Ecken- und Türstehern, die auf einen kleinen Auftrag warteten, von Leuten, die herumsaßen und schwatzten oder ihre Schafe durch die Straßen trieben. Ein Gerber hockte vor einem Bottich und schabte ein Hammelfell glatt. An Budenbesitzern schritten Wüstenkamele im Schaukelgang vorüber. Eines war geschmückt, als ginge es auf seine eigene Hochzeit, mit Troddeln und Behängen; sogar blitzende Goldstücke waren in die Stirnriemen geflochten. Französische Stadthäuser, die einen Pariser Boulevard hätten säumen können, wechselten mit orientalischen Gebäuden und ihren weit die Straßen überwölbenden Gittervorsprüngen ab. Dazwischen Neubauten im mediterranen Bauhausstil und Hütten, die schier zusammenfielen. Die Bars und Cafés waren erregend. Vollgepackt mit diskutierenden jungen Männern und älteren Wasserpfeifenrauchern, dazwischen stark geschminkte Frauen in engen, westlichen Kostümen.
Ihre eigenen Frauen hatten sich für die Ägyptenfahrt eine Wüstengarderobe schneidern lassen, bunte Kleider, die sie in Deutschland niemals getragen hätten, auch bequeme Shorts, die knapp über den Knien endigten, und Blusen aus hauchdünner Baumwolle. Auf ihren Köpfen saßen Hüte mit extrabreiter Krempe, die sie vor der Sonne schützten. Seine Kleidung war konventioneller. Während der Stadtgänge trug er einen leichten, hellen Leinenanzug und einen eleganten Strohhut auf dem Kopf.
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