Wenn immer behauptet wird, in den letzten Sekunden zöge das Leben in rasendem Lauf vorüber, so trifft das in dem Fall nicht zu. Isa dachte an ihren Augenbrauenstift. Nicht an Blumenberg, wie es doch zu erwarten gewesen wäre. Bestimmt hatte sich die Kappe wieder gelöst und der Stift das Innenfutter verschmiert; sie flog und dachte mit aller Gewalt an die Schmiererei, biß die Zähne zusammen, fest, daß vom oberen linken Schneidezahn ein Stück absplitterte. Eine zu vernachlässigende Größe gemessen daran, was alles splitterte und brach, als der Körper auf dem Asphalt aufschlug.
Kurzes Zwischenstück darüber, wo die Zuständigkeit des Erzählers endet
Was weiß ein Erzähler, was weiß er nicht? Ob der Erzähler wirklich wissen kann, was einem Selbstmörder zuletzt in den Sinn kommt, ist fraglich. Natürlich, welche Kleidungsstücke getragen wurden, wie die Verlassenschaft aussah, welchen Anblick die Leiche bot, wie nah- und fernstehende Menschen darauf reagierten, das alles hat der Erzähler bis ins kleinste Detail bei sich vermerkt; er braucht nur geschickt zu wählen, geschickt auszulassen, und er darf dabei nicht allzu streberhaft sein Aufzählungsmaschinchen in Gebrauch nehmen (unter einem Riesenhaufen an Kleinigkeiten wird sonst unmerklich und ohne Gefühlsverhaftung weggestorben). Gesetzt den Fall, all dies sei berücksichtigt und mit dem nötigen Schwung versehen: siehe da, vor den Augen des mitfühlenden Lesers löscht sich ein Buchstabenleben selbst aus.
So ein Selbstmörder tut’s schlüssig, auch wenn er vorher noch ein wenig gezögert, die eine oder andere Hampelei ihn aufgehalten haben sollte, was der Erzähler selbstverständlich auch weiß, weil er ihn ja tage- und wochen-, vielleicht monatelang bei der Vorbereitung des Schlamassels hat beobachten können. Aber was genau der Selbstmörder gedacht hat? Gedankenhetze, Gedankenstillstand im letzten Augenblick? Oder der totale Rückblick, inwärts in Zeitlupe, von außen gesehen als Raffung? Sekunde der Befruchtung der Eizelle? Geburtsschrei, erster Klaps auf den Po? Kehrt, was in der Kümmerlichkeit der Erinnerung nicht geborgen ist, mit Macht zurück? Über das Individualgedächtnis hinaus? Durch alle auf der Erde stattgehabten Formen hindurch bis zur Schöpfungsnanosekunde, damit alles Gewesene innerhalb einer Sekunde imaginativ vernichtet wird und das große Aufzehren alles nimmt, was je in die Existenz eingetragen wurde?
Mit welcher Überlegenheit auch immer der Erzähler vorgibt, Bescheid zu wissen, er fischt hier bloß Luft aus der Luft. Wenn er ehrlich wäre, müßte er passen. Der Fall Isa scheint zunächst klar. Wir haben es mit einer Verliebten zu tun, die sich im Irrealis verfangen hat. Eine riesige erotische Sehnsuchtswolke trägt die schmale Person mit sich herum, geschwellt von unerfüllbaren Wünschen, die bis in den Himmel hinaufsteigen; auf ihr tyrannisches Geheiß springt sie von der Brücke. So weit, so plausibel. Die Verfinsterung treibt und bläht den Menschen, überstäubt ihn mit falschem Zucker, bis kein Genuß in der Wirklichkeit mehr möglich ist. Aber krallt sich die Wirklichkeit nicht jäh an den todbereiten Menschen an, genau in dem Augenblick, in dem es zu spät ist? Wenn eine besonnene Rückkehr nicht mehr möglich ist? Und als was blitzt das Wirkliche auf und strahlt in unwahrscheinlichem Glanz? Kleinklein, als Inhalt eines Krimskramstäschchens? Oder anders, als Spatz, in dessen ruckhaftem Hupf und Köpfchenwenden Heiterkeit und Anmut geborgen sind, daß man sich eigentlich bloß an den Haaren fassen und vergnügt loskichern müßte? (Ironie des Spatzen: hätte sich Isa in die Haare gegriffen, wäre sie aus der Balance geraten, und die Schwerkraft hätte sie ebenso erledigt.)
Dem Erzähler ist jedenfalls die Idee lieb und teuer, daß der Selbstmörder im letzten Moment von der Wirklichkeit verspottet wird, die er so geschmäht und vernachlässigt hat. Wie weggeblasen, all der falsche Zauber. Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen , kehrt sich alles um. Habhaft und stark ist sie, die Lebenswahrheit. Sie lacht den Selbstmörder aus, macht ihn zu einem jämmerlichen Idioten. (Diese Theorie würde der Erzähler natürlich nicht in Anschlag bringen gegenüber Menschen, die sich selbst töten, um der Folter oder der Ausrottung zu entgehen, die sich in einer Lage befinden, in der ihnen die Physis nur noch Qualen bereitet. Auch war ihm die Szene nie lächerlich vorgekommen, in der Sokrates den Giftbecher leert. Aber Sokrates war eben Sokrates, ein in Würde getrockneter alter Mann, der realistisch vermaß, was auf ihn zukam.)
Dem Leser steht naturgemäß frei, zu denken, was er will. Im Fall Isa mag er glauben, sie sei dem Phantom Blumenberg entgegengesprungen und kein einziger Wirklichkeitsschnipsel habe sich mehr zwischeneindrängen können. Bittesehr, dem Leser darf nicht widersprochen werden.
Da hier nun der Erzähler selbst bemüht wurde, soll er gleich noch in anderer Sache vorlaut wirtschaften dürfen, um dann für immer aus dieser Geschichte zu verschwinden: Gerhard. Der uns allen liebgewordene Gerhard, dem wir gewiß ein langes Leben gönnen. Der Erzähler, wieder souveräner Herr über die Zeit und auch ein bißchen der Faktenhuber, den wir bereits kennen, greift jetzt zu einem Enterhaken und holt eine spätere Stunde heran. Um genau zu sein: Stunde, die sich ereignet hat fünfzehn Jahre, sieben Monate und vier Tage nach jenem fatalen Sonntag im Mai.
Gerhard konnte damals, 1982, natürlich nicht wissen, daß ihm als einem der wenigen Schüler Blumenbergs ein wissenschaftlicher Aufstieg beschieden sein würde, der ohne größere Aufregungen und Widerstände gemächlich verlaufen sollte. Baur machte einfach weiter wie bisher, machte sich wenig Feinde und erwarb sich, wo immer er auftrat, Respekt oder zumindest Sympathie. Gottlob ahnte er damals nicht, daß in ihm das Schicksal seiner früh verstorbenen Eltern als rasanter Taktgeber tickte, eine böse Zeituhr, durch die seine vielversprechend anlaufende Karriere ein jähes Ende fand.
Als er sich 1997, ein knappes Jahr nach dem Tod seines Lehrers — inzwischen neununddreißig Jahre alt und glanzvoll habilitiert —, an der ETH Zürich im Fachbereich Philosophie um eine Professorenstelle bewarb und dabei so mitreißend vorsang, daß er als Prachtpferd aus dem Rennen ging, knickte er direkt nach dem Vortrag, der zu weiten Teilen seinem alten Lieblingshelden Samson gegolten hatte, Vortrag, zu dem ihn die ansonsten eher reservierten Schweizer überschwenglich beglückwünschten, noch auf dem Flur der ETH ein, fiel zu Boden und starb wenige Stunden später im Universitätsspital an den Folgen eines Hirnschlags. Baur hinterließ eine Frau, eine Tochter von sechs Jahren, einen anderthalbjährigen Sohn und einen kreuzfidelen, noch nicht ganz stubenreinen Terrier, den er seinen Kindern zu Weihnachten geschenkt hatte.
Jetzt aber Schluß mit den Todesnachrichten. Nun wollen wir den Erzähler dahin zurückscheuchen, woher er gekommen.
Von seinem anstrengenden Sonntagsausflug war er wieder nach Altenberge zurückgekehrt. Der zerwühlte Sturmhimmel hatte sich beruhigt, der Regen aufgehört, aber so viel Wasser war vom Himmel gestürzt, daß die Bäume schwer von Nässe in der Dunkelheit standen, als schwarze Massen, von denen es unaufhörlich tropfte und zu deren Füßen es gluckerte. Auf dem Weg zum Haus hatten sich große Pfützen gebildet, denen schwer auszuweichen war. Er schwor sich, dies würde der letzte Ausflug solcher Art gewesen sein, zog die nassen Schuhe aus, wusch sich die Hände und schwemmte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er war nicht in Stimmung für ein Nachtmahl, er war nicht in Stimmung zu reden. Er wollte trocken werden und sich wiederfinden.
Der Beruhigung dienlich war ein sandfarbener Kaschmirpullover, den er gewöhnlich im Arbeitszimmer trug, bequem geschnitten wie ein Sporthemd mit Kragen. Er besaß mehrere davon in unterschiedlichen Farben. Als er, gewärmt von der vertrauten häuslichen Wolle, im Musikzimmer auf dem Sofa lag, kamen seine Gedanken allmählich in ruhigeres Fahrwasser.
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