Eine Weile war er am Waldrand von Hankensbüttel den Amtsweg entlanggefahren und kam nun in eine Gegend mit kleineren Häusern, umringt von Gärten, fand aber die Kurze Straße nicht. Hier mußte es irgendwo sein. Blumenberg parkte den Wagen, stieg aus und sah sich nach Leuten um, die er hätte fragen können.
Offenbar war spätnachmittags niemand in dieser Gegend unterwegs. Nicht einmal Radfahrer oder Sommerfrischler. In den Gärten zeigte sich kein Mensch. Aber doch, da, ziemlich weit entfernt, befand sich eine kleine schwarze Figur auf dem Gehweg. Beim Näherkommen machte sich Blumenberg Gedanken, wer diese einsame Figur wohl sei, bis er erkannte, daß er auf eine Nonne zuging, eine Nonne im schwarzen Gewand mit weißer Haube, die sich an irgendwelchen Büschen zu schaffen machte. Wahrscheinlich eine der Konventualinnen, die zum Kloster Isenhagen gehören, dachte Blumenberg.
Sie bemerkte ihn nicht, als er auf sie zuging, allzu beschäftigt, wie sie war, denn sie fuhrwerkte mit einer Gartenschere, die sie mit weiß behandschuhten Fingern umklammert hielt, energisch an einem Strauch herum, dessen üppig blühende Zweige über den Zaun hingen, während sie mit der anderen Hand den jeweils abzuschneidenden Zweig gepackt hielt, um ihn mit einer Geste des Unmuts zu Boden zu werfen.
Verzeihen Sie, sagte Blumenberg auf die höflichste und zarteste ihm mögliche Weise, dürfte ich Sie etwas fragen?
Mit einem Ruck drehte sich die kleine Person um; die Gartenschere kampfbereit gegen ihn gerichtet, funkelte sie ihn aus schwarzen Augen an.
Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Kurze Straße finde? fragte Blumenberg.
Wortlos wies die Nonne auf den Weg, den er gerade gekommen war, mit einer jähen Kopfdrehung, was wohl hieß, daß er die nächste Biegung nach rechts nehmen sollte.
Von der Nonne ging eine eigentümliche Anziehungskraft aus. So klein sie war (sie reichte ihm kaum bis an die Schultern) und so alt sie sein mochte (gewiß neunzig Jahre oder mehr) — Blumenberg hatte noch nie eine derartige Energie in einer Person versammelt gesehen.
Darf ich mich erkundigen, was Sie da tun? hörte er sich selbst sagen und wunderte sich, daß er eine Frage, die womöglich verwickelte Erklärungen auf den Plan rief, überhaupt gestellt hatte, blickte dabei auf die abgeschnittenen Zweige zu ihrer beider Füße und sah ihr wieder in die Augen.
Die Nonne hatte einen wunderbaren Alterskopf, flintscharfe Züge, eine sehr helle Haut, ihr Gesicht umrahmt von einer kompliziert gefältelten weißen Spitzenhaube, darunter lag ein ebenfalls weißer Spitzenkragen. Sie war — ihm fielen keine besseren Wörter dafür ein — eine ruhmreiche, gloriose Erscheinung .
Wie ich sehe, sagte Blumenberg, sind Sie in einem äußerst wichtigen Geschäft befangen, bei dem ich Sie nicht länger stören will.
Sie haben es erfaßt, sagte die Nonne.
Als er sich mit einem Abschiedsgruß zum Gehen wenden wollte, fragte sie: Wen haben Sie denn dabei?
Blumenberg drehte sich überrascht um — und Tatsache — der Löwe hatte ihn begleitet, war hinter ihm hergeschlichen, ohne daß es ihm aufgefallen war.
Er folgt mir seit zwei Tagen, sagte Blumenberg, aber für gewöhnlich bemerkt ihn kein Mensch.
So! Die Nonne stieß das S mit ungewöhnlicher Schärfe hervor: Dann handelt es sich um eine Auszeichnung!
Vielleicht. Da bin ich mir leider nicht so sicher, wie Sie es offenbar sind. Aber verraten Sie mir jetzt, was Sie hier tun, nun, da wir über meinen Begleiter auf nicht ganz herkömmliche Weise miteinander bekannt geworden sind? Ich zweifle nicht, daß Sie ernsthafte Geschäfte zu verrichten haben — übrigens: Blumenberg, mein Name.
Er reichte ihr die Hand, die sie zögernd ergriff. Inzwischen hielt sie die Schere nicht mehr gegen ihn gerichtet, sondern gesenkt.
Käthe Mehliss.
Der scharf herausgezischte S-Laut blieb noch einen Moment über das Verklingen hinaus in seinen Ohren hängen. Kaum hatte die Konventualin ihren Namen genannt, fuhr sie übergangslos fort: Wildwuchs gehört beschnitten. Wo kommen wir hin, wenn auch noch die Gehwege zuwachsen.
Wie zum Beweis, daß ihre Tätigkeit durch das kleine Gespräch keineswegs hinfällig geworden war, ergriff sie erneut einen Zweig, schnitt ihn ab und warf ihn Blumenberg vor die Füße.
Sie sind eine Perfektionistin, das sieht man gleich, sagte Blumenberg anerkennend, Sie können nicht anders. Sie tun es aus Sorge, aus allumfassender Sorge.
Ordnung schaffen, Ordnung halten. Den Wildwuchs in die Schranken weisen. Das ist meine Aufgabe. Wo man steht und geht, herrscht eine unbegreifliche Nachlässigkeit. Und das geht weit über die Pflanzen hinaus.
Beim Wort Aufgabe stand die winzige Mehliss aufrecht wie eine Soldatin: Sie sind der Erste, der begreift, was ich tue. Kein Wunder, da Sie ja ihn an Ihrer Seite haben.
Als hätte er durch die Nonne eine Ermunterung erfahren, blickte der Löwe interessiert an ihr hoch, nicht allzu hoch allerdings, denn sie überragte ihn nur um ein weniges. Ruhig nahm er hin, daß ein weiterer Zweig nun direkt vor seinen Tatzen landete.
Sie haben ihn verdient, sagte Käthe Mehliss mit Bestimmtheit, jawohl, verdient. Mit ihren schwarzen Knopfaugen fixierte sie ihn jetzt milder als zuvor.
Ich vermute, Sie gehören dem Damenstift in Isenhagen an, sagte Blumenberg, worauf er ein knappes Ja zur Antwort erhielt.
Käthe Mehliss schien sich nur noch für den Löwen zu interessieren, ein wenig beugte sie sich zu ihm hinab: Er hat schon bessere Tage gesehen. Allzuviel werden Sie nicht mehr an ihm haben.
Sie nahm wieder ihre soldatische Position ein und sah Blumenberg streng in die Augen: Wären Sie ihm in seiner Jugendzeit begegnet, hätten Sie ordentlich vor ihm gekuscht. Aber jetzt — nun ja. Seine Tage auf Erden sind gezählt, meine sowieso, die Ihrigen wohl auch.
Blumenberg konnte sich nicht genug wundern. Ob die Nonne mit ihrem erstaunlichen Klarblick ein wenig Rückschau betreiben könne? Womöglich wisse sie, wen der Löwe begleitet hatte, bevor er sich in seinem Arbeitszimmer einfand?
Käthe Mehliss lächelte und wehrte ab — zu solcher Auskunft sei sie nicht befugt; wobei sie einen schnellen Blick nach oben schickte und hinzufügte, ein zu Gottes Lob erschaffenes Wesen habe überall seine Wohnstätte. Wegen der Einzelheiten müsse er sich anderweitig erkundigen. Außerdem halte er sie von ihren Geschäften ab.
Blumenberg machte eine leichte Verbeugung. Auf Wiedersehen, sagte er, es war mir eine Ehre, Ihnen begegnet zu sein, wirklich, eine Ehre, und damit drehte er sich um und ging mitsamt Löwe wieder den Weg zurück, den er gerade gekommen war.
Blumenberg fand endlich das Haus des Freundes, fand den Freund im Beisein der Frau hinten im Garten unter einer Blutbuche in einem Korbstuhl sitzend. Zuvor aber war, als er das Gartentor aufklinkte, ein Rottweiler herangeschossen und hatte ihn grimmig gestellt. Blumenberg vermied es, ihn zu fixieren, aber er sprach auf ihn ein, und nach wenigen Sätzen entspannte sich der Hund, grollend zwar, als müsse er die Einsicht erst verdauen, daß ein bedeutender Philosoph mit ihm redete und er sich in diesem Eindringling getäuscht hatte, dann wurde er zutraulich und geleitete den Besucher ohne Geknurre ums Haus herum in den Garten.
Die zartroten Frühlingsblätter flirrten im Sonnenlicht, ein sanft hin und her wogendes Laubmeer, würdig, von einem Dichter beschrieben zu werden. Auf den ersten Blick war das eine Idylle. Trotzdem war Blumenberg bestrebt, den Besuch möglichst zu verkürzen. Er ertrug die zitternden, mit Altersflecken besäten Hände des Freundes schlecht, sein gurgelndes Reden, die Speichelklümpchen, die sich weißlich in den Mundwinkeln abgesetzt hatten, seine Sätze, die ausgerechnet jetzt, da es ihm schwerfiel, sie herauszubringen, in Plapperei ausarteten, begleitet von Ungeduld und Unmut, mit denen er die Frau, die emsig alles zum Kaffee herbeischaffte, immer wieder versuchte wegzuscheuchen. Blumenberg empfand diese Szenen als peinigend. Er schwieg.
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