So leicht wie das Kleid von ihr fällt sein Hemd von ihm ab. Ab jetzt sind keine Befehle mehr erforderlich, sie kann nicht mehr anders als nach seinem Gürtel greifen und dann nach dem, was ihr entgegenschnellt aus seiner Hose. Mit den Füßen streifen sie sich die letzten Fesseln ab. Ein kurzes Innehalten — dann hat er den BH-Verschluss geknackt und sie ihren Beschluss von vorher bekräftigt: Wird schon nicht, und das Datum verlangt auch nicht nach besonderen Vorkehrungen. Leichtsinn ist vielleicht nicht das Gebot der Stunde, aber was es zu verhüten gilt, ist vor allem eine Unterbrechung dieser gerade aufblühenden Sicherheit, das Richtige zu tun. In kleinen Schritten nähern sie sich der Bettkante, und in großen Schüben breitet sich die Lust in ihr aus. Eng umschlungen fallen sie in die Waagerechte.
Sie ist schlanker, als er dachte. Jünger und mit einer elastischen Kraft ausgestattet, die seine Erregung durch die Andeutung von Widerstand steigert. Etwas sanft Wildes, ein Besitzenwollen, das sie im Zurücksinken die obere Position behaupten lässt. Was er mag. Instinktiv … nein, bewusst sparen seine Lippen und Hände ihre Brüste aus, vorerst. Er liebt den fraulichen Schwung, mit dem ihre Taille in die Hüfte übergeht, ihr Kauern auf ihm, das Gewicht ihres Körpers. Haare im Gesicht und bissige Küsse. Das Beobachten kann er nicht sein lassen, aber es wird jetzt zu einem Teil des Genusses — das Wissen, dass sie alles Spiel hinter sich gelassen hat in der selbstvergessenen Konzentration ihrer Lust.
Gerne würde sie Worte unter ihre Küsse mischen und ihm sagen, wie sehr sein männliches Laisser-faire genau das ist, was sie will. Wie er ihren Rhythmus annimmt und mit Armen unterstützt, die ihr stärker vorkommen als vorher. Aber dann sagt sie nichts, sondern richtet sich auf ihm auf, und mit einer Geste, für die sie sich selbst bewundert, greift sie hinter ihren Rücken, hebt ihr Becken und navigiert ihn in sich hinein. Überrascht von dem Laut, der ihrer Kehle entfährt und der Mühelosigkeit ihres Tuns, mit einem Schwindel aus Freiheit und Glück. Einem Schwanz in ihrem Schoß.
Wie eine Blinde tastet sie mit beiden Händen nach seinen, und während er langsam ihren Bewegungen antwortet, beobachtet er die fast andächtige Gefasstheit ihres Gesichts. Geschlossene Augen, der Doppelstrich ihrer Lippen. Fest verschränken sich ihre Finger mit seinen, bewegt sie sich, als buchstabiere sie das stille Ausmaß ihrer Lust im ersten Auf und Ab. Alles Vertrauen in ihren ausgestreckten Händen. Er will nicht denken, dass es das erste Mal seit langem für sie ist, obwohl er es weiß. Zu glücklich fühlt er sich in seiner momentanen Passivität, der Reduktion auf sein lustspendendes Organ.
Für einen Augenblick sind sie beide alleine mit sich, nahfern und nur seelenverwandt. Jeder auf seinem Gipfel davor. Ein Augenblick, in dem man Gedanken lesen könnte, wenn da welche wären. Kerstin lässt den Oberkörper nach vorne und ihr Haar auf sein Gesicht fallen. Keine Frage dringlich genug, um ins Spiel einzugreifen. Mühelosigkeit und Schweiß in winzigen Perlen. Er fasst nach ihrer Brust, und dann wird ihr Atem ununterscheidbar, scheint auszusetzen, schwankt und füllt sich mit heiseren Stimmen. Einfache Fahrt, bis ans Ende der anderen Welt …
Manchmal hielt er inne inmitten des Trubels und fragte sich, was er fühlte. Glück war ein zu großes Wort und Gleichgültigkeit ein zu kleines, aber irgendwo dazwischen lag das Gefühl — eine Leichtigkeit, die sich nicht fassen ließ. Außerdem war er nicht mehr nüchtern, so wenig wie die anderen fünf- oder sechstausend Feiernden im Bergenstädter Festzelt, und auch auf Konstanzes Wangen zeigten sich diese roten Flecken, die sie immer bekam, wenn sie ein bisschen mehr trank. Alle standen auf Tischen und Bänken und verliehen ihrer Begeisterung Ausdruck mit lautem Gesang und einer Gebärdensprache, in der bizarrer Triumph zu liegen schien: Seht her, wie wir feiern können! Hier und da hatte man die Zeltplane an den Seiten hochgerollt, aber was an Frischluft hereinkam, mischte sich sofort unter diesen abgestandenen Sirup im Innern des Festzeltes, den kollektiven Atem des Grenzgangsfestes, der sich in blauen Wolken unter der Decke sammelte.
Er leerte sein Glas und fühlte sich — gut. Er war es bloß nicht gewohnt, sein Befinden in so einfache Worte zu kleiden.
Drei Grenzgangstage lagen hinter ihnen. Ungewohnte Mengen an Frischluft und Bier, dazu das frühe Aufstehen und die dörfliche Umgebung, für die Konstanze als Stadtmensch eine verkitschte, geradezu zärtliche Zuneigung empfand, die wiederum seine Eltern derart gerührt hatte, dass sie schon am Kommersabend zum Du übergegangen waren. Ein voller Erfolg also, Konstanzes erster Besuch in Bergenstadt. Vor allem seine Mutter war hin und weg von der jungen Frau aus Berlin, hatte seit drei Tagen glänzende Augen und vor Tätschel-Lust unruhige Hände. Sein Vater dagegen blieb sich selbst treu und um Sachlichkeit bemüht, stellte Fragen zum Fortgang der Bauarbeiten im früheren Mauerbereich. Gut bis befriedigend informiert, aber sichtlich stolz auf seine Vertrautheit mit den Berliner Verhältnissen. Ob die alte U 1 bald wieder durchfahre? (Er meinte die U 2.) Jetzt stand Konstanze neben Thomas auf der Bank, stieß ihn gelegentlich an der Schulter, wenn er das Mitschunkeln vergaß, und er bekam Lust, mit ihr alleine zu sein und sie von diesem Spaghettiträgertop zu befreien.
«Wirst du müde oder hast du bloß kein Taktgefühl?«Wieder ein Knuff in seine Seite, ein Schweißfilm auf ihrer Stirn und dann die Mischung aus Salz und Bier auf ihren Lippen. Er legte seine Hand auf den schmalen Streifen Haut zwischen Top und Jeans.
«Gefällt’s dir?«, fragte er.
Sie nickte. Stumm und schön im Halligalli des dritten Abends.
«Ist es gar nicht bizarr für dich? So als Außenstehende …«
Sie schüttelte den Kopf, und er tat es ihr nach.
«Dieser ganze Provinzkram. Nein?«
Woraufhin sie wortlos die Arme um seinen Hals legte und ihn noch einmal küsste, mit ein bisschen Zunge jetzt und dem Gewicht ihres Körpers gegen seinen gelehnt. In letzter Zeit hatten sie nicht häufig Gelegenheit gehabt, gemeinsam zu feiern, aber es gefiel ihm, wie Alkohol und Musik ihr Temperament noch steigerten, allen Gesten lustvollen Schwung verliehen und wie ihre Stimme diesen besitzergreifenden Klang bekam, wenn sie ihn ›meinen Kerl‹ nannte. Er war gerne ihr Kerl. Es fiel ihm dann leichter als sonst, sein Schreibtisch-Ich abzulegen für die Dauer eines Abends und einfach mitzuschwingen im erhöhten Taktschlag von Konstanzes Ausgelassenheit.
«Wir müssen mehr feiern«, sagte er in ihr Ohr.
«Wir werden den ganzen Sommer feiern. Die Atlantikküste runter und wieder rauf.«
«Willst du noch was trinken?«
Sie nickte noch einmal, und er sprang von der Bank und kämpfte sich durch Richtung Theke. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen, es begann das ausgelassene Einerlei einer Nacht ohne Sperrstunde, und einen Augenblick lang trieb er staunend in diesem promilleschwangeren Fluidum. Er hatte es geschafft. Vier Jahre Galeerenarbeit waren nicht umsonst gewesen, sondern hatten ihm erst ein summa cum laude und dann vor versammelter Mannschaft Schlegelbergers Ritterschlag eingebracht: Die vierte Assistentenstelle, die der alte Fuchs in zähen Verhandlungen für seinen Lehrstuhl rausgeholt hatte — die kriegen Sie, Herr Weidmann. Er hatte die Bewährungszeit genutzt, und nun nahm Schlegelberger ihn auf als einen der seinen. Willkommen im Club, hatte Kamphaus mit seinem maliziösen Lächeln gesagt. Im September ging es los, und bis dahin würden sie durch Frankreich und Spanien reisen und das Leben genießen. Konstanze hatte genug Sommer an der Ostsee verbracht und wollte endlich den Süden kennenlernen. Vier Wochen lang würden sie nur ihrer Lust und der Sonne folgen, und sobald er daran dachte, wollte er am liebsten seine Vorfreude laut herausschreien, hinein in den Lärm des Festzeltes.
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