Nie hat der Rehsteig stiller, sonniger und schöner ausgesehen als an diesem Morgen.
Fünf oder zehn Minuten ist sie am Fenster stehen geblieben, ohne sich zu rühren, ohne etwas zu denken, und hat erst gar nicht verstanden, dass der Name für das Gefühl in ihrer Brust ›Glück‹ lautet.
Auf ihrer Fußmatte lagen zehn Veilchen.
Eins, zwei, drei Tage ist das jetzt her.
Sie nimmt eine Tablette aus der Packung, legt sie sich auf die Zunge und trinkt einen Schluck Wasser aus der hohlen Hand. Ihr Gesicht kommt ihr eingefallen vor, vielleicht hat sie abgenommen. Was soll sie jetzt tun?
Demnächst steht der Elternsprechtag an, und am Nachmittag hat sie ihren Kleiderschrank inspiziert und festgestellt, dass ein vor Jahren gekauftes Kleid nur ein wenig am Saum gekürzt werden muss, um wieder tragbar zu werden. Hat vor dem Spiegel gestanden und den neuen Verlauf mit Nadeln abgesteckt und sich ausgerechnet, wann sie das Kleid bei der Schneiderei Yilmaz abgeben muss, damit es rechtzeitig fertig wird.
Aber warum hat er nichts gesagt? Er hat ja angerufen, gleich am Sonntagabend. Ihre Mutter lag bereits im Bett, und sie saß in der Diele, direkt neben dem duftenden Veilchenstrauß, und interessierte sich nicht die Bohne für sein Gespräch mit Lars Benner, dem er wegen dieser Bemerkung im Artikel über das neue Biologiezentrum die Leviten gelesen habe. Interessierte sich nicht dafür, wusste auch nicht, welche Bemerkung gemeint war, atmete nur Veilchenduft und hörte seiner Stimme zu. Jedenfalls gehe er nun davon aus, dass der Bote keine Schulinterna zu drucken beabsichtige. Der alte Ludwig Benner habe das auf Nachfrage ganz ähnlich gesehen.
Ja, doch. Ja, doch.
— Das wollte ich Ihnen nur sagen.
— Ich bin Ihnen sehr dankbar. … für die Veilchen.
— Geht’s Daniel besser?
— Schwer zu sagen. Ein bisschen, ja. … und mir übrigens auch.
Seine Stimme hat diesen ehrlich besorgten und trotzdem ruhigen Klang, so als würde er Schlimmes erwarten, aber nicht fürchten, und zum ersten Mal kommen ihr seine Nachfragen nicht wie Einmischungen vor. Auch Pausen im Gespräch scheinen ihn nicht zu irritieren, er wechselt kurz das Thema, um eine Bemerkung über die vielen Deutschlandfahnen zu machen, die man seit WM-Beginn überall an Autoantennen und Balkongeländern sieht, und will dann wissen, ob es schwierig für sie ist, zum Elternsprechtag zu kommen, wegen ihrer Mutter.
Die Blumen, denkt sie. Die Blumen!
— Sie könnten mich sonst kurz auf dem Handy anrufen, dann sag ich Ihnen, wie groß der Andrang ist.
— Meine Mutter kann ein paar Stunden alleine bleiben, das geht schon. Das muss gehen. Wir könnten uns doch mal auf ein Glas Wein treffen.
Seine Geduld ist mörderisch! Weiß er gar nicht, dass jeder Gedanke, den sie seit dem Morgen denkt, einem aus dem Nest gefallenen Küken ähnelt: schutzlos einer Umwelt ausgeliefert, die ihm nach dem Leben trachtet. Bergenstadt ist kein Ort für Romanzen. Und sowieso: keine Luftschlösser auf dem Boden der Tatsachen! Den ganzen Tag hat sie sich das wieder und wieder gesagt: Daniel werden die Haare zu Berge stehen, und ihrer Mutter einen fremden Mann vorzustellen, der neben ihr am Frühstückstisch Platz nimmt, kommt überhaupt nicht in Frage. Alles, die ganze Sache, ist gänzlich ausgeschlossen, darin liegt ihre Poesie und ihr Reiz. Das Problem indessen liegt in ihrer eigenen Sehnsucht, denn die wird größer mit jedem Tag.
— Dann sehen wir uns also am Elternsprechtag. Oh, er versteht es, seine Pausen so zu setzen, dass mögliche Alternativen in die Zwischenräume einsickern können und man beim Auflegen weiß, was einem gerade entgangen ist. Morgens legt er ihr Blumen vor die Tür, und am Abend ruft er sie an — und sagt kein Wort! Ein leichtes Vorgefühl von Müdigkeit macht sich in Kerstin breit, als sie sich die Schläfen mit kaltem Wasser benetzt und dann zurück ins Wohnzimmer geht. Im Lauf des Tages hat sie beschlossen: Wenn Weidmann bis zum übernächsten Samstag nicht anruft und sie einlädt zum Essen oder Spazierengehen, dann wird sie mit Karin Preiss in diesen Club fahren. Wenn doch, sagt sie ihr ab. Mit anderen Worten: Es ist seine Entscheidung. Sie wird ihn nicht anrufen.
Jürgen Klinsmann sieht auch ziemlich mitgenommen aus.
«Immer noch null, null?«
«Es ist an Dramatik nicht zu überbieten. «So lahm sagt er das wie einen auswendig gelernten Satz.
«Nur Daniel Bamberger bleibt gelassen.«
«Einer muss ja Ruhe bewahren.«
«Wenn es null, null bleibt, fliegen wir dann raus?«
«Sag nicht immer ›wir‹! Das sind irgendwelche Fußballprofis, untergebildet und überbezahlt, das sind nicht wir.«
«Wie war’s bei den Rheinstraßen-Burschen am Wochenende?«Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, ihren Sohn dazu zu bringen, einmal mehr als zwei Sätze am Stück mit ihr zu reden.
«Gut. Wie immer.«
Sie lässt sich aufs Sofa fallen und ist zu faul, die Hand nach der Schale mit den Erdnüssen auszustrecken. Vor dem polnischen Tor drängen sich jene überbezahlten Fußballprofis, die ihr Sohn sich weigert in sein Verständnis von ›Wir‹ zu integrieren. Wobei unklar bleibt, ob er überhaupt ein Verständnis von ›Wir‹ hat. Der Ball fliegt herein, alle springen hoch, der Ball ändert seine Richtung, nimmt Kurs aufs Tor und wird gehalten.
«Und willst du mir nicht endlich erzählen, wie dein Besuch bei Endlers war?«Seit dem Gespräch mit Thomas Weidmann hat sie kaum noch an den Vorfall in der Schule gedacht, weil ihre Gedanken jedes Mal hängen bleiben bei ebendiesem Gespräch, den Veilchen und der Frage, was sie zu bedeuten haben.
Daniels Blick lässt keine Reaktion erkennen, aber er scheint auf einmal etwas weiter weg zu sitzen in seinem Sessel. Das Wohnzimmer wirkt größer. Formationen von Zypiklon-Molekülen ziehen in ihr Gehirn ein, und sie muss ankämpfen gegen die Müdigkeit und die Schwere ihrer Augenlider. Es kann nicht sein, dass ihre eigenen Sorgen sie derart abhalten von der Erfüllung ihrer erzieherischen Pflichten!
«Also?«
«Hast du was getrunken im Bad?«, fragt er.»Du sprichst so komisch.«
«Lenk nicht ab und sei nicht so frech. Du schuldest mir eine Erklärung.«
«Ich war bei Endlers und hab mich entschuldigt. Ende.«
«Ende. Du glaubst, so einfach ist das?«Sie blinzelt in Richtung ihres Sohnes, dessen Augen suchend erst über den Wohnzimmertisch gleiten, dann zum Bord mit dem Fernseher. Wird er auch einmal so ein … Was ist das Wort? So einer, in den man sich als junge Frau voller Idealismus verliebt und ihm dann treu bleibt, ohne zu merken, dass man mit dieser Treue zusehends alleine dasteht. Bis man schließlich keine junge Frau mehr ist oder zumindest nicht mehr die jüngste im Ort. Wird Daniel einmal so einer werden? Und steht es noch in ihrer Macht, das zu verhindern? So naiv es klingt, aber sie hat immer geglaubt, dass ein Kind, das unter den Strahlen ihrer Liebe aufwächst, nicht missraten kann. Dass ihr Sohn zwar Pech haben, unglücklich werden, verzweifeln oder sogar jung sterben, aber nicht zu einem unaufrichtigen Menschen werden kann.
Daniels Blick begegnet ihr, ungerührt und fern. Als müsste er schon einmal üben für all die Frauen, die er künftig unglücklich machen wird. Ist sie genau genommen nicht bereits sein erstes Opfer?
«Killer, alle miteinander. «Ihre Zunge fühlt sich seltsam schwer an.
«Geh ins Bett, Mama.«
Sie und Heerscharen anderer Frauen, verschwenden sie nicht mehr Lebensenergie, an das Märchen von der heilenden Kraft ihrer Liebe zu glauben, als das Einsehen der Wahrheit je kosten würde? Zum Teufel damit! Zum Teufel mit Weidmann und seiner Geduld, sie wird mit Karin Preiss in diesen Club fahren und sich dem erstbesten Mann hingeben, der die Hand nach ihr ausstreckt.
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