* * *
In Gladenbach ist Karin Preiss Richtung Marburg abgebogen. Bis zur Kreuzung am Baggersee von Niederweimar und dann weiter über die Schnellstraße, die kurz vor Gießen zur Autobahn wird. Man merkt es nur an den blauen Schildern. Die schnellste Strecke ist das nicht, aber Kerstin hat nichts gesagt, sondern auf ihr Sodbrennen geachtet und die Dörfer entlang der Strecke, die alle gleich langweilig aussehen: Kneipen, Metzgereien, Bäckereien, in der Mitte eine Kirche, manchmal eine Quelle-Filiale, manchmal Mode für Sie & Ihn . Ihr liegt sowieso nicht daran, schnell anzukommen. Eine bedrückende, an die Langeweile ihrer Jugend erinnernde Samstagabendnormalität hängt über diesen Dörfern und den verwaisten Sportplätzen dazwischen. Dicke Menschen unterhalten sich über Gartenzäune hinweg. Autos stehen wie gewienerte Pokale in Hofeinfahrten. Wenn ich die Wahl hätte zwischen dem Kummer und dem Nichts …, hat sie unlängst bei Faulkner gelesen, aber das kommt Kerstin in diesem Augenblick wie eine Alternative vor, die es nur in Romanen gibt. In Wirklichkeit hat man sich zu entscheiden zwischen zwei Arten von Kummer, und das Nichts, lernt man früh genug, ist bloß der Unterschied zwischen beiden.
Mit anderen Worten: Sie ist nicht in der Stimmung für Gruppensex.
Im Westen hängt ein Rest Sonnenuntergang über dem flacher werdenden Horizont, ansonsten ist der Himmel dunkel, und die Straßenränder zeigen Spuren eines leichten Sommerregens. Zu ihrem Bedauern hat Frau Preiss schon kurz hinter Bergenstadt anhalten und das Dach schließen müssen, aber jetzt verkündet der Diskjockey von HR 3,»dass uns morgen wieder ein Eins-A-Sommertag erwartet, Freunde, von Kassel bis zur Bergstraße«. Karin Preiss trägt eine Brille und sitzt so aufrecht hinter dem Steuer, dass ihr Rücken kaum die Sitzlehne berührt. Trotzdem fehlt nicht viel, und der Tachometer hätte ihr die Sicht auf die Straße versperrt. Jedes Mal, wenn Kerstin ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zuwirft, stellt sie sich dieselbe Frage: Was bringt eine verheiratete Frau und Mutter einer sechzehnjährigen Tochter dazu, sich in einem Kaff namens Nieder-Enkbach den lüsternen Blicken wildfremder Provinzler aussetzen zu wollen? Mit entschlossen abenteuerlustiger Miene und einer Umsicht, wie sie früher der Planung von Lindas Kindergeburtstagen gegolten hat. Zwei Sortimente Damenunterbekleidung liegen auf der Rückbank, Kerstin hält einen Internetausdruck mit der Wegbeschreibung in der Hand, und hinter dem Beifahrersitz lagern ein halbes Dutzend Piccolo-Sektfläschchen in einer Kühlbox, aus der es in scharfen Kurven leise klirrt.
«Die Kunden, habe ich mir sagen lassen, kommen größtenteils aus Frankfurt und Wiesbaden. Ist ja nicht weit über die Autobahn. Bei den Einheimischen ist der Club kaum bekannt. «Das war Karins letzte Äußerung vor der Schnellstraße, auf die Kerstin aber nur in Gedanken geantwortet hat: Es sei denn, einer liest mal aus Versehen den Anzeigenteil seiner Lokalzeitung.
Langeweile alleine reicht als Antwort nicht aus. Frustration, Vernachlässigung, Einsamkeit oder die berühmte Torschlusspanik — nichts davon scheint auf Karin Preiss zuzutreffen, also bleibt nur Banalität: Wir tun es, weil wir es können. Wir suchen nach Gründen, es nicht zu tun, finden keine und tun es also. Oder finden welche, aber tun es trotzdem. Möglichkeiten sind Einladungen, die sich nicht ausschlagen lassen. Kerstin wirft einen Blick auf den von nervösen Händen bis zum Zerfallen auf- und zugefalteten Ausdruck in ihrem Schoß und sagt:
«Die nächste Abfahrt.«
Die Autobahn führt zwischen Schallschutzwänden durch den Gießener Stadtbereich. Ein Schild kündigt die US Facilities an. Thomas Weidmann hat nicht mehr angerufen, und sie fühlt sich vom Warten so ausgelaugt, dass sie bis vor kurzem geglaubt hat, zu allem bereit zu sein.
«Alles klar. «Obwohl sie nicht überholt und die Straße nicht ansteigt, schaltet Frau Preiss einen Gang zurück und drückt aufs Gas. Sie fährt barfuß. Die Schuhe mit den hohen Absätzen hat sie unter ihren Sitz geschoben, ihr tief ausgeschnittenes Kleid endet knapp unterhalb der Knie. Gewagt geschnitten und brav gemustert, so dass man nicht weiß, ob es verführerisch oder bieder aussieht. Ein ganzes Sammelsurium von Düften — Haarspray, Creme, Parfüm, Deodorant — weht Kerstin vom Fahrersitz entgegen. Sie selbst hat zum ersten Mal Anitas Parfüm aufgelegt, mit einem derben Fluch auf den Lippen und dem Gefühl, ein stark übertriebenes Kompliment entgegenzunehmen, so stark, dass es an Beleidigung grenzt.
Jetzt riecht sie also wie die Frau, die sie gerne wäre, und denkt: Fick dich, Anita.
Eine HR-3-Hörerin mit Piepsstimme wünscht sich Elvis Presley,»für meinen Schatz, der noch im Büro sitzt und den ich ganz doll lieb habe«, und Kerstin fragt sich, warum sie ihm das nicht sagt, wenn er nach Hause kommt.
Als sie das nächste Mal nach Westen schaut, ist vom Sonnenuntergang nichts mehr geblieben. Noch ein paar Kurven, dann wird die Autobahn sich in die Tiefe der Wetterau senken. Ein dreispuriger Strom aus Lichtern, eine Mischung aus Wochenendeinkäufern, Ausflüglern und Nachtschwärmern und zwischendrin ein Bergenstädter Damenduo, das seit mehreren Minuten aus verschiedenen Fenstern in die vorbeitreibende Nacht sieht. Wie immer, wenn ihre innere Anspannung überhandnimmt, betrachtet Kerstin sich selbst wie durch eine Begleitkamera, als wäre sie auf der Suche nach jener Grimasse, die ihre Nervosität in einem befreienden Lachen auflösen kann. Aber alles, worauf sie stößt, sind Karin Preiss’ Blick und der gereizte Tonfall ihrer Stimme:
«Was denn?«
«Ich denke immer noch darüber nach, warum … Ich meine, was war noch mal der Grund, weshalb wir in diesen Club gehen sollen?«Es kommt ihr selbst albern vor, die Frage jetzt zu stellen, wo sie ihr Ziel fast erreicht haben, und sie ist Karin dankbar, dass sie ihr Stöhnen, so gut es geht, unterdrückt.
«Ich hab dich gefragt, und ich bin froh, dass du mitkommst. Aber ich habe dich nicht gezwungen.«
«Sollte kein Vorwurf sein.«
«Wir tun es einfach. Wir fragen nicht warum, denn wir sind niemandem Rechenschaft schuldig. Wir tun zur Abwechslung mal, was nicht von uns erwartet wird. Es ist Ewigkeiten her, dass ich zuletzt etwas einfach so gemacht habe.«
Einfach so. Kerstin hätte gerne gewusst, wie man gleichzeitig verheiratet und niemandem Rechenschaft schuldig sein kann, aber es scheint ihr wenig ratsam, ihre Skepsis auch noch mit einer Andeutung moralischer Überlegenheit zu kombinieren — zumal sie eine solche gar nicht empfindet.
Am Vormittag hat sie ihre Mutter ins Krankenhaus gebracht. Liese Werner, ein schweigsames, verwirrtes Kind, das auf alle Erklärungen nur mit einem Nicken antwortete und keine Fragen stellte. Ein junger Doktor hat die Untersuchung geleitet und Kerstin mitgeteilt, dass das CT keine Anzeichen auf innere Blutungen erbracht habe.
Ihre Mutter leide an einer Demenz, die durch viele kleine Schlaganfälle, sogenannte Schlägle, bedingt sei. Die Kopfschmerzen erkläre das zugegebenermaßen nicht, aber da glaube er an einen Zusammenhang mit der Blasenentzündung. Doktor Hentig. Der Name auf dem Schild ist ihr bekannt vorgekommen, aber das Gesicht nicht, er muss neu sein in Bergenstadt. Ein fescher Arzt, wie aus einer Vorabendserie, teuer bebrillt und gut rasiert, mit den autoritätsschwangeren Gesten seines Berufsstandes: Die Hände an den Fingerspitzen zusammengelegt, so dass sie sich gefragt hat, ob auch Mediziner Seminare belegen wie Körpersprache und nonverbaler Ausdruck . Ob es speziell einstudierte Haltungen für die Übermittlung bestimmter Nachrichten gibt.
Das Weiß seines Kittels kam ihr anmaßend vor.
Wir werden sie erst einmal dabehalten zur Flüssigkeitsbilanzierung, sagte er schließlich. Heute Nachmittag machen wir einen Demenztest, um zu sehen, wie weit der Verfall fortgeschritten ist. Sie konnte mir ihren Namen nicht sagen, ist Ihnen das aufgefallen?
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