Als ich Nadja zum Zug brachte, von ihrem Gepäck war nur ein Köfferchen übriggeblieben, sprachen wir kaum miteinander. Schweigend durchquerten wir den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig, ihr Zug mußte jeden Moment einfahren, sagte Nadja, daß ich ihr das nächste Mal von meinem Manuskript erzählen müsse, sie wolle alles darüber wissen, denn schließlich stünde es ja jetzt ihr zu, mein Werk in den Westen zu schmuggeln. Wenn mir noch etwas zu meinem Glück gefehlt hatte, dann war es dieser Satz gewesen.
Zurück in Jena, stellte sich bereits mit dem ersten Satz, den ich Nadja schrieb, ein Tonfall ein, in dem ich ohne Konzept, ja eigentlich ohne wirklich nachzudenken, loslegen konnte. Während ich die Blätter zusammenfaltete, formulierte ich schon den Beginn für Brief Nummer 2.
Täglich, nun auf der Maschine, schrieb ich an Nadja und war überrascht, daß mein Alltag keineswegs so unliterarisch war, wie ich gedacht hatte.
Nach ihrer ersten Antwort — die hellblauen Kuverts trudelten alle vier, fünf Tage ein —, in der sie meinen Brief als» wunderbare Prosa «bezeichnet hatte, legte ich Blaupapier zwischen die Blätter.
Ich hatte zu spät begonnen, für die bevorstehende Dreierprüfung zu lernen: Literatur, Kunst und Geschichte Roms, dazu die Sprachen, eine Prüfung zum deutschen Drama des 18. Jahrhunderts und Politische Ökonomie (oder war es dialektischer Materialismus?). Für» Vivat Polska!«blieb keine Zeit, wollte ich nicht mein Briefkontinuum zerstören — die Tage nachträglich zu referieren hätte den Ton verdorben. So bestand meine Arbeit am Roman allein darin, Nadja von meinen Fortschritten zu berichten. Regelmäßig meldete ich den Abschluß eines Kapitels.
Kommt Ihnen das nicht komisch vor? Bemerken Sie, daß ich mich, nach allem, was Sie von mir wissen, völlig untypisch verhielt? Warum warf ich gerade in jenen Tagen mein Manuskript in die Ecke? Ja, die Liebe, werden Sie vielleicht sagen, ja, die Liebe war schuld! Ja, ich liebte Nadja. Aber auch die Liebe muß einem ja irgendwie in den Kram passen.
Ich weiß nicht mehr, welcher Brief es gewesen ist. Doch die Überzeugung, an einem Briefroman zu schreiben, besaß ich schon nach wenigen Tagen. Und sie war übermächtig! Gelängen die Briefe an Nadja, so mein Kalkül, entstünde das Werk von allein. 204
Ich fand mich in einer ähnlichen Situation wie in Oranienburg wieder. Alles, was ich sah und tat, wurde literarisches Material. Jeder Brief entwickelte sich, ohne daß ich es beabsichtigte, zu einer Art Erzählung. Ich war überrascht, wie sich selbst weit auseinanderliegende Ereignisse unversehens miteinander verflochten, als wären sie Teil eines kompositorischen Plans. Sobald ich den Deckel von der» Rheinmetall «abnahm, geriet ich ins Erzählen. Ich mußte kaum nachbessern, denn ich ergänzte das Erlebte mit größter Selbstverständlichkeit, geradezu automatisch. Wenn man weiß, wohin die Roulettekugel rollt, setzt man natürlich auf die richtige Zahl.
Ich liebte Nadja, ich liebte Jena, ich liebte mein Leben, und alle sahen, wie mich die Liebe veränderte. Nur Vera schwieg.
Nadja und ich trafen uns alle zwei oder drei Wochen in Prag, Brno oder Bratislava, manchmal nur für Stunden. Am Telephon hatten wir einen Geheimkode entwickelt, in dem wir uns selbst verfingen. Bei unserem dritten Treffen — mitten in den Prüfungen — wartete ich in Bratislava, weil Nadja für eine Woche ihre Mutter, die mittlerweile in Wien lebte, besuchte. Ihr Zug sollte kurz nach meinem eintreffen. Als eine Stunde Verspätung angezeigt wurde, nahm ich ein Taxi, fragte nach einem Hotel und bezahlte eine Nacht im Voraus mit zweihundert Mark, was meinem gesamten Monatsstipendium entsprach. 205Als ich zum Bahnhof zurückkehrte, betrug die Verspätung bereits zwei Stunden. Die Abkürzung für Wien Südbahnhof, die sich hartnäckig auf der Anzeige hielt, während alle anderen Städtenamen wechselten, wurde mir in jener Nacht zum Fluch. Seither weiß ich auch, daß nástupiště Bahnsteig heißt und příjerdy vlaků Ankunft der Züge. Ich entwickelte hilflose Rachegelüste und überlegte mir böse Kommentare zu dem Wandgemälde im Bahnhof, Kommentare, mit denen ich vor Nadja glänzen wollte — über den Köpfen aller friedliebenden Menschen der Erde spießte der Sputnik gerade die Friedenstaube auf. Nach zwei Stunden empfand ich nur noch blanken Haß und wünschte nichts weiter, als daß die drei finsteren Typen, die sich links aus dem Bild stahlen, umkehrten, um mit ihren Maschinenpistolen all diese zukunftsfrohen sozialistischen Visagen, vom blonden Stahlarbeiter bis zur schwarzen Mutter, über den Haufen zu ballern. Nach fünf Stunden flehte ich zu diesem gräßlichen Olymp, er möge endlich Erbarmen mit uns haben. Fünf geraubte Stunden bedeuteten ein Viertel unserer Zeit, einen verlorenen Abend, eine halbe Nacht.
Endlich, nach Mitternacht, traf der Wiener Zug ein, aber ohne Nadja. Im Hotel standen mir noch die Tränen in den Augen, als ich um Rückgabe des Geldes bettelte. Man hatte Erbarmen mit mir. Ich nahm meine Tasche und stieg in den nächsten Zug, der nach Brno fuhr. Zwischen zwei und drei Uhr morgens suchte ich den dortigen Bahnhof nach Nadja ab und sprang, alarmiert von der Vorstellung, sie könnte an der Grenze festgehalten worden sein und mit dem nächsten Zug kommen, in einen schon anfahrenden Zug zurück nach Bratislava. Ich hatte Glück, daß ich nicht kontrolliert wurde. Wieder in Bratislava, rief ich ihre Mutter an, die, obwohl ich sie aus dem Schlaf riß, mit tiefer Stimme» Ach, mein Junge «sagte und mir dann die Nummer des Hotels» Jakub «in Brno diktierte.
Im Hotel» Jakub «war unsere Geschichte bereits bekannt. Eine Kellnerin schritt uns voran in den Frühstücksraum und bewirkte mit einer Geste, als wäre ihr ein Zauberstück gelungen, mächtigen Applaus für das glückliche Ende unserer Irrfahrt. 206War das nicht der Stoff, aus dem Romane gemacht werden? Mit Nadjas wenigen Schillingen spielten wir westliches Paar. Jede Kellnerin, jeder Museumswärter wurde in ein Gespräch verwickelt und ins Vertrauen gezogen, in jeder Passantin, in jedem Tischnachbarn fanden wir unser Publikum.
Einmal, es war in Prag, hat mich Nadja sehr verunsichert.
Ich wäre wohl auf die Kippah getreten, hätte sich nicht Nadja zuvor danach gebückt. Mit einer Spange — solche Utensilien barg ihre Handtasche — befestigte sie die Kippah in meinem Haar. Ich glaubte, Nadja sei neugierig, wie ich damit aussähe. Da es nur wenige Schritte bis zur Synagoge waren, die wir besichtigen wollten, behielt ich das Käppchen auf.
Wieder auf der Straße, vergaß ich, es abzunehmen. Nach wenigen Schritten, Nadja hatte sich bei mir eingehakt, sprach uns ein Mann an. Er fragte nach der Synagoge und starrte auf meine Kippah. Beinah hätte ich sie abgesetzt wie einen Hut.
Wieso er uns auf deutsch anspreche, fragte Nadja. Ihre Aussprache ähnelte der von Frau Zoubková, nur klang Nadja schneidend. Wieso er glaube, daß wir Deutsch verstünden, daß wir es gar sprechen wollten.
Er nickte. Mit irrlichterndem Blick und bebenden Lippen suchte er nach einer Entschuldigung. Nadja, noch immer an meinem Arm, trat einen halben Schritt vor und wies mit der flachen Hand in Richtung Synagoge:»Geraadeaus!«schnarrte sie. Er nickte erneut, lächelte auf einmal wie befreit und rief» Schalom!«.
Nadja zog mich fort. Ich wartete auf eine Reaktion von ihr, vielleicht sogar auf ein Lachen. Je länger sie schwieg, desto unruhiger wurde ich. Als ich sie ansah, blieben wir stehen. Nadja war eine Fremde, traurig und stolz, ja beinah hochmütig.
Sie wollte nicht, daß ich die Kippah abnahm. Sie stehe mir gut. Am nächsten Tag, wir sprachen von ihrer Mutter, sagte Nadja, in ihrer Familie habe es auch Juden gegeben. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Die Kippah liegt noch hier bei den Mützen und Schals.
Um die Prüfungen hatte ich mir kaum Gedanken gemacht. Ich glaubte an mein Glück und bestand jedesmal knapp. Die gutwilligen Prüfer honorierten meine Semesterarbeiten.
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