Nach dem Abendbrot sangen ein paar Soldaten auf dem Flur Weihnachtslieder. Ich war im Zimmer geblieben und schrieb Geronimo, wie eigenartig es sei, allein zu sein, wenn auch nur für Minuten. Es komme mir vor, als schwänzte ich irgend etwas, so fremd sei mir das Alleinsein geworden.
Einige Minuten später mußte ich tatsächlich ein Gefühl des Ertapptwerdens unterdrücken, als die Tür aufflog. Die halbe Kompanie schien auf Besuch zu kommen. Mein erster Impuls war aufzustehen, doch ich beherrschte mich. Ein Tritt gegen meinen Hocker ließ mich hochfahren. Knut verlangte Meldung, er befahl, daß ich mich nach Dienstvorschrift ankleidete und Pit, dem einzigen auf der Kompanie verbliebenen EK — das heißt Entlassungskandidat, also dem einzigen verbliebenen Soldaten im dritten Diensthalbjahr —, Meldung machte. Ich konnte sehen, wie man im Flur die Köpfe reckte und hochsprang. Ich fragte, was er wolle.
Da umklammerte mich jemand von hinten und preßte mir die Arme an den Körper. Ich war völlig hilflos. Das bißchen Würde, das in so einer Situation noch möglich ist, glaubte ich zu bewahren, indem ich mich nicht wehrte. Mehrmals wurde ich hochgehoben, landete aber immer wieder auf den Füßen. Mein Spind stand offen. Knut warf mir die Stiefel gegen die Knie. Er brüllte. Ich wurde losgelassen.
Ich legte das Koppel an und salutierte, ich salutierte langsam und lächelte dabei. Knut forderte ein Geständnis, ich solle es zugeben. Der mich umklammert hatte — mein Ajax-Thersites — stieß mich in den Rücken. Als ich mich umdrehte, fuhr er mich an, ich solle nach vorn sehen. Aber das alles wurde schnell belanglos, nachdem ich das Blatt mit meiner Schrift in Knuts Hand erkannt hatte. Noch bevor Gunther und Matthias vortraten, wurde mir klar, was hier geschah.
Knut verlas stockend, mich und meine Sauklaue verfluchend, was ich an jenem Abend mitgeschrieben hatte. Nach jedem Satz fragte er:»Hast du das gesagt?«—»Ja, das habe ich gesagt«, antwortete mal Gunther, mal Matthias.»Ja, das habe ich gesagt. «Die Püffe in die Seite, die Kopfnüsse, die Stöße — all das hätte ich ertragen, wäre es nicht von diesem einen Wort begleitet gewesen. Spitzel! Jeder sagte es: Spitzel! Ein Spitzel! Knut ließ keinen Satz aus. Zu gut funktionierte diese Inszenierung.»Ja, das habe ich gesagt!«Knut war zum Magier geworden. Er zog die Fäden. Selbst diejenigen, mit denen ich mich gut verstand, mit denen ich mich sogar über Knut lustig gemacht hatte, riefen» Spitzel! Spitzel!«. Und sie warteten, daß endlich etwas geschah.
Ob sie denn tatsächlich glaubten, so würden Spitzelberichte aussehen? Das könne ja wohl nur ich beantworten, rief Knut. Er wollte endlich von mir hören, warum und für wen ich das geschrieben habe. Jemand schlug mir auf den Kopf.
Weil ich Schriftsteller bin, weil ich an einem Buch über die Armee arbeite! Warum gestand ich es nicht?
«Lauter!«rief Knut.»Ich wollte meinem Freund einen richtigen Eindruck von der Armee geben!«wiederholte ich — jedes Wort ein Messerstich. Ich hatte aufgegeben, ich spielte mit, ich versuchte gar nicht mehr, sie zu überzeugen. In gewisser Weise bewunderte ich Knut sogar. Man knöpft sich einen Spitzel vor — eine Szene, wie ich sie selbst gern erfunden hätte.
Pit, der sich täglich im Waschraum mit einem Schlauch duschte und dann, naß gekämmt, mit rosigem Gesicht, den Schlauch über der Schulter, über den Flur tänzelte, dieser Pit krähte, warum hier überhaupt diskutiert werde, die Sache sei doch klar: Spitzel!
Aber Knut war noch nicht fertig. Was das denn für ein Freund sei, an den ich da schriebe, so ein Freund vielleicht wie jene Freundin, die ich ihnen aufgetischt hätte?
Wieder wurde ich umklammert. Gunther und Matthias sollten zuerst» reinhauen«. Mein Ajax-Thersites half ihnen aus der Verlegenheit und warf mich zu Boden. Ich fiel auf den Rücken.»In die Eier!«rief jemand. Ich spürte nichts.
Was folgte, erspare ich Ihnen. Ihnen und mir. Ich staunte die ganze Zeit, daß sie das Richtige taten, daß sie instinktiv wußten, wie sie am tiefsten demütigen konnten. Vielleicht waren sie auch so treffsicher, weil sie guten Gewissens handelten, weil es niemanden gab, der etwas gegen die Bestrafung eines Spitzels gehabt hätte. Das heißt, einen gab es, doch das erfuhr ich erst später.
Knuts einziger Fehler war: Er übertrieb. Meine Züchtigung dauerte zu lange. Und mit der Empfindung für Schmerz kehrte auch die Wut zurück und ein euphorisches Freiheitsgefühl: Ich hatte nichts mehr zu verlieren!
Kurz darauf wurde ich zum Kartoffelschälen beordert. In dem gefliesten Lagerraum des Küchengebäudes saß ich auf einer umgestülpten Kiste, schälte vor mich hin und hörte zu, was die anderen Ausgestoßenen erzählten. Damals hätte ich sofort zugestimmt, die restlichen sechzehn Monate zwölf Stunden täglich Kartoffeln zu schälen. Es reihte sich Strafarbeit an Strafarbeit. Doch ich war froh, die Feiertage nicht auf der Kompanie verbringen zu müssen.
Da mir kaum Zeit zum Schreiben blieb, machte ich meine Notizen auf der Toilette — hastige Stichworte, die Interpunktion auf Gedankenstriche reduziert. Es war Geronimo, der mir gratulierte. Ich hätte das neue Jahr mit einem eigenen, unverwechselbaren Stil begonnen. Merkwürdigerweise erwachte ich auch nicht mehr vor dem Weckpfiff.
Mein Schweigen unterband jeden Annäherungsversuch. Entschuldigungen überhörte ich. Selbst jenen Unteroffizier, der mir eröffnete, man habe mich nicht in der Küche benachrichtigt, als meine Mutter zu Besuch gekommen war — er nannte die Schuldigen und bot sich als Zeuge an —, würdigte ich keines Wortes. Von dem Kuchen, den Mutter für mich abgegeben hatte, war nur das Netz und die leere Springform bis zu mir gelangt.
Meine Rolle war in gewisser Weise bequem: Ich mußte keine Rücksichten mehr nehmen. Knuts Befehle ignorierte ich. Als er mir einmal die Unterwäsche aus dem Spind kehrte, landete seine Bettdecke auf dem Flur. Ich war zu allem bereit, auch zum unendlichen Kleinkrieg.
Ende März, es war ein Sonntag, trat Nikolai in unsere Stube und damit in mein Leben. Nikolai besaß vielleicht die auffälligste Physiognomie der Kompanie. Die Spitze seiner schmalen langen Nase zeigte streng nach unten und gab seinem Gesicht etwas Widderhaftes. Sein Vater war Armenier, seine Mutter, eine Berlinerin, hatte später einen Deutschen geheiratet. Nikolai war ein sehr guter Läufer, zählte auf der Sturmbahn zu den Schnellsten und sollte als Fahrlehrer in der Kompanie bleiben. Seine Uniform saß wie maßgeschneidert. Man glaubte immer, er habe Dienst, weil er selbst abends und am Wochenende nach Vorschrift gekleidet herumlief. Als er vor mir stehenblieb, sein Käppi abnahm und fragte, ob er sich setzen dürfe, erwartete ich, daß er sich als Abgesandter in einer wichtigen Mission zu erkennen gebe.
Seine Bitte sei ungewöhnlich, doch die Bezahlung gut: zwei Schachteln» Club«. Dafür sollte ich einen Geburtstagsbrief schreiben, drei bis vier Seiten, nicht für ihn, sondern für Ulf Salwitzky. Dessen Frau habe Geburtstag, doch seit Tagen bringe Salwitzky kein Wort aufs Papier. Wahrscheinlich könne ich mehr verlangen, doch er, Nikolai, halte zwei Schachteln vorerst für angemessen.
Mir gefiel das Geschäftsmäßige seines Vorschlags, obwohl ich nicht auf die Entlohnung angewiesen war. Vera saß wieder Modell und verfügte über genügend Geld, um meinen Sold (110 Mark) je nach Bedarf aufzubessern. 182
«Du brauchst nur deinen Füller«, sagte Nikolai und erhob sich. Im Klubraum wartete Ulf Salwitzky, ein» Vize«, also zweites Diensthalbjahr. Schreibblock und Photos lagen vor ihm.
Nikolai ließ sich zwei Tische weiter nieder, entnahm seiner Beintasche ein Bündel Buntstifte und begann zu zeichnen. Frau Salwitzky hatte eine auffällig schmale Oberlippe. Wenn sie lachte, entstanden auf ihren Wangen Grübchen.
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