«Und jetzt können Sie gehen!«sagte seine Frau und blieb vor mir stehen. Ihre Tränen waren versiegt. Ich lud sie ein, unsere Räume zu besichtigen, erzählte von der Zeitung —»Ja«, antwortete sie, und es klang bitter,»die kennen wir!«— und bot ihnen an, kostenlos bei uns zu inserieren.»Worum solln wir das machen?«fragte er.»Die kenn uns doch hier olle, worum denn, worum solln wir das machen?«Die Tochter, eine Bohnenstange, erwiderte nicht mal unseren Gruß, doch sie schnaubte unglaublich laut in ihr Taschentuch, als wir den Laden verließen.
Vorgestern hatte ich gerade die richtige Überschrift für einen Artikel gefunden (»Kapitäne retten sich zuerst«), als Ilona drei Gießener Journalisten ankündigte. Mit zwei von ihnen hatten wir den Wahlsonntag verbracht. Sie hoben vor Wiedersehensfreude die Arme, als wollten sie mich an sich drücken. Hinter ihnen erschien der Chef vom Dienst, bei dem ich mir das» Spiegeln «abgeschaut habe. Er wirkte ernst und verschlossen. Ich führte sie durch die Redaktion bis an meine Tür und stieg mit ihnen hinauf zu Jörg, Marion und Pringel, die sich zwei große Zimmer teilen. Wieder fanden die Gießener alles» spannend«, als erwarteten sie jeden Augenblick eine dramatische Wendung. Ich fragte nach ihrem Wahlartikel. Sie gaben sich erstaunt und waren untröstlich, weil der uns nicht erreicht hatte. Beim Kaffeetrinken belogen wir sie über die Höhe der Auflage, ließen uns bewundern — für Jörgs Artikel und unsere Skandalnummer — und lauschten ihren Betrachtungen über den» starken Anzeigenmarkt«, der hier heranwachse. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sie sich mit dem Versprechen, den Artikel zu schicken.
Gegen sechs tauchte der Chef vom Dienst erneut auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Ich saß auf Ilonas Stuhl, telephonierte und wartete auf den Baron, der uns versprochen hatte, seinen Rechtsanwalt und eine Überraschung mitzubringen.»Da haben Sie ja Glück«, sagte ich,»daß unser Tor offen war.«
Es sei wohl eher so, erwiderte er, daß das Glück auf unserer Seite liege, wir hätten Glück, daß er sich die Mühe gemacht habe, noch mal hereinzuschauen. Er nahm auf dem Stuhl für Anzeigenkunden Platz.
Er wolle ganz offen mit mir sprechen, er hoffe, wir wüßten das zu schätzen und würden die Gunst der Stunde erkennen. Seine Zeitung habe beschlossen, in Altenburg ein Blatt zu gründen, beste Drucktechnik, professionelle Journalistik, den Mantelteil (also alles Überregionale) übernehme man von Gießen. Allerdings sei zu überlegen, ob wir mit ihnen zusammenarbeiten wollten, was hieße, daß sie uns aufkauften, es aber durchaus im Bereich des Vorstellbaren liege, daß»einer von Ihnen die Leitung hier übernimmt …«
Ich unterbrach ihn und ging hinauf. Ich sprach ganz ruhig, weshalb Jörg zuerst gar nicht reagierte.»Nein«, sagte ich,»ich spinne nicht. Er sitzt da unten und wartet.«
Der Chef vom Dienst mußte alles wiederholen, was seine Stimmung spürbar verschlechterte. Er könne uns, nur damit wir Bescheid wüßten, keine Bedenkzeit geben, morgen Punkt neun Uhr sei die Sitzung, auf der die Entscheidung gelte, die er heute abend von hier mitnehme.
Jörg fuhr auf. So überlegen er mit Georg verhandelt hatte, so unbeherrscht benahm er sich jetzt.
«Und ob wir das können«, gurrte der Gießener, wobei man spürte, wie wohlig ihm war, als er die Beine ausstreckte und die Füße an den Knöcheln übereinanderlegte. Was er, Jörg, denn glaube? Ein paar Räume, Strom, Telephon, das wüßten wir doch. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, säßen jetzt ohnehin nicht wir in diesem Palast, sondern ganz andere Leute, wobei der Chef vom Dienst auf sich zeigte. Wenn man den Einheimischen einmal den Vortritt gelassen habe, so bedeute das nicht, daß man das immer so zu machen gedenke.
Jörg, der aus unerfindlichen Gründen seine Baskenmütze in Händen hielt und mit ihr herumwedelte, versuchte zu lachen.»Und wer schreibt?«
Das liege noch in unserer Hand. Sie jedenfalls hätten genug Profis,»junge, ehrgeizige, gut ausgebildete Leute«, die auf eine Chance warteten, sich zu beweisen. Und an Einheimischen mangele es ebensowenig. Auf ihre winzige Anzeige in der LVZ, die Winzigkeit schrumpfte zwischen seinem Daumen und Zeigefinger gegen null, hätten sich über dreißig Bewerber gemeldet, von denen sie sieben zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hätten. Das bereite ihm kein Kopfzerbrechen. Und seine jungen Freunde, die übrigens immer und überall, das könnten wir ihm glauben, voller Hochachtung und Bewunderung von uns sprächen, seien ja längst dabei, die ersten Ausgaben vorzubereiten.»Die haben bereits Quartier bezogen.«
Jörg schwieg und blinzelte. Ich wartete darauf, in Panik zu geraten, und fragte, wozu sie uns überhaupt brauchten. Der Chef vom Dienst zog ein Schnäuzchen und ließ seinen Kopf auf die Brust fallen.
Er erkenne unsere Leistung an, begann er — sobald er den Mund öffnet, löst sich seine Zunge mit einem Schmatzlaut vom Gaumen —, er habe Respekt vor jungen Leuten, die etwas für sich und die Gesellschaft tun wollten, die die Ärmel hochkrempelten und mit Engagement zur Sache gingen. Wir seien die neuen Kräfte, auf die man setzen könne und auch müsse, denn von außen ließe sich viel machen, aber eben nicht alles. Das sei ein Vorsprung, den er uns gern gutschreibe. Er sei der erste, der unseren Einsatz für Demokratie und Marktwirtschaft anerkenne. Allerdings, bei Licht betrachtet, fehle es uns an Professionalität, woher sollte die in einer Diktatur auch kommen, aber das könnten wir Schritt um Schritt erlernen, da zähle er auf unseren guten Willen. Kurzum, es sei eine Frage der Sympathie und der Fairneß. Wir sollten es einmal so sehen: Wir würden genau das schreiben, wonach uns der Sinn stünde, und sie würden uns mit ihrer geballten Kraft, mit Erfahrung und Kapital, mit ihren Verbindungen und Tricks — ja, er rede offen, auch Tricks gehörten zum Geschäft, haha —, sie würden uns zu Hilfe kommen — gegen die LVZ, die alte Parteizeitung. Und so entstünde gemeinsamund unter Anstrengung aller etwas wirklich Neues, ein Zeichen, ja ein Vorbild für das ganze Land.
Er war von Satz zu Satz auf seinem Stuhl emporgewachsen und schwang nun wie ein Prophet sein haariges Fäustchen.»Ein Vorbild für das ganze Land!«wiederholte er.
Allein, fuhr er fort, hätten wir sowieso keine Chance gegen die Großen, die früher oder später hier auftauchen würden. Insofern wären sie, die Gießener, regelrecht ein Glücksfall für uns, auch wenn wir das jetzt noch nicht so sehen würden. Und mit einem seligen Lächeln fügte er hinzu:»Wenn die Großen hier einreiten, fragt Sie«— und damit stieß er seinen Finger über den Tisch —»niemand mehr!«Etwas verspätet begann sein Finger wie ein Metronom hin- und herzuwackeln.»Dann fragt Sie niemand mehr!«wiederholte er und lehnte sich zurück, als hätte ihn dieser Satz erschöpft.
Vielleicht blieb ich deshalb so ruhig, weil nur noch diese Rolle frei war, vielleicht aber auch, weil ich spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Als Anfangsverdacht reichte mir die Unfähigkeit des Chefs vom Dienst, eine plausible Sitzhaltung zu finden. Seine Gesten wirkten vorgetäuscht.
«Und wozu«, fragte ich,»brauchen Sie uns wirklich?«
«Nicht schlecht, nicht schlecht«, sagte er nach einem besonders lauten Schmatzer.»Also gut, spielen wir mit offenen Karten. «Er vollführte eine Art Bocksprung mit dem Stuhl, der am Teppich hängengeblieben war.»Was ich Ihnen gesagt habe, stimmt, ohne Abstriche. Wir kommen, so oder so. Der entscheidende Faktor jedoch ist wie immer — die Zeit! Jede Woche, die wir eher als die LVZ fünf Seiten Altenburg haben, bringt uns Abonnenten, die später nicht mehr oder nur sehr teuer zu bekommen sind. Wir müssen schnell sein!«
Seine haarigen Finger tremolierten auf der Tischplatte.»Halten Sie nur mal die Zeitungen nebeneinander, nach welcher greifen Sie ganz automatisch? Und was passiert, wenn Altenburg nach Thüringen kommt, was so sicher ist wie das Amen in der Kirche? Wer will dann die Leipziger noch, was interessiert uns Sachsen?«
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