In Moskau gab es den größten Ball, den sie bisher erlebt hatten. Humboldt erschien im blauen Frack, wurde hier- und dorthin geschoben, Offiziere salutierten vor ihm, Damen knicksten, Professoren verbeugten sich, dann wurde es still, und der Offizier Glinka trug ein Gedicht vor, das mit dem Brand Moskaus begann und mit einer Strophe über Baron Humboldt, den Pro-metheus der neuen Zeit, endete. Der Applaus dauerte über eine Viertelstunde. Als Humboldt, etwas heiser und mit zaghafter Stimme, vom Erdmagnetismus sprechen wollte, unterbrach ihn der Rektor der Universität, um ihm einen Zopf aus den Haaren Peters des Großen zu schenken. Gerede und Geschwätz, flüsterte Humboldt in Ehrenbergs Ohr, keine Wissenschaft. Er müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.
Ich weiß, daß Sie verstehen, antwortete Gauß. Sie haben immer verstanden, armer Freund, mehr, als Sie wußten. Minna fragte, ob ihm nicht wohl sei. Er bat sie, ihn in Ruhe zu lassen, er habe laut gedacht. Er war in gereizter Stimmung, allein schon des lächelnden Chinesen wegen, der ihn die ganze Nacht angesehen hatte, so ein Benehmen war nicht einmal im Traum akzeptabel. Au-
ßerdem hatte er schon wieder eine Abhandlung über die astrale Geometrie des Raums zugeschickt bekommen, diesmal von niemand anderem als dem alten Martin Bartels. Also hat er mich doch nach all den Jahren überflü-
gelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. Wie meinen Sie das, fragte der Zar, der Humboldt gerade das Band des Sankt-Annen-Ordens hatte umhängen wollen, und hielt in der Bewegung inne. Hastig versicherte Humboldt, er habe nur gesagt, man dürfe die Leistungen eines Wissenschaftlers nicht überschätzen, der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts, er gewinne kein Land, er ziehe keine Frucht, weder säe noch ernte er, und ihm folgten andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr wüßten, bis schließlich alles wieder versinke. Stirnrunzelnd legte der Zar das Band um seine Schultern, es wurde Vivat gerufen und Bravo, und Humboldt bemühte sich, nicht gebeugt zu stehen. Zuvor auf den Prunkstiegen waren ihm offene Knöpfe an seinem Frackhemd aufgefallen, und errötend hatte er Rose bitten müssen, sie zu schließen, seit neue-stem seien seine Finger so klamm. Nun verschwamm ihm der Goldsaal vor Augen, die Lüster strahlten, als käme ihr Licht von anderswo, alles klatschte, und ein dunkelhäutiger Dichter trug mit weicher Stimme ein Poem vor.
Humboldt hätte Gauß gern von dem Brief erzählt, der ihn nach über einem Jahr der Reise zerknittert und flek-kig in Petersburg erwartet hatte. Schwer und langsam, schrieb Bonpland darin, vergingen seine Tage, die klein gewordene Erde enthalte nur mehr ihn, sein Haus und das Feld darum, alles draußen gehöre der undurchsich-tigen Welt des Präsidenten an, er sei gefaßt, hoffe nichts mehr, erwarte das Schlimmste und habe sozusagen die Ruhe gefunden; Du fehlst mir, mein Alter. Ich habe nie jemand getroffen, der Pflanzen mochte wie Du. Humboldt zuckte zusammen, Rose hatte ihn am Oberarm be-rührt. Alle um die große Tafel sahen ihn an. Er stand auf, doch während seiner etwas konfusen Tischrede dachte er an Gauß. Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschä-
mendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns. Gauß legte die Pfeife weg, zog die Samtmütze über den Hinterkopf, steckte das russische Wörterbuch und den kleinen Puschkin-Band ein und machte sich auf, vor dem Abendessen spazierenzugehen.
Sein Rücken schmerzte, sein Bauch ebenso, und in seinen Ohren rauschte es. Dennoch war seine Gesundheit gar nicht übel. Andere waren gestorben, er war noch hier.
Immer noch konnte er denken, zwar nichts allzu Kompliziertes mehr, aber für das Nötigste reichte es. Über ihm schwankten die Baumwipfel, in der Ferne ragte die Kuppel seiner Sternwarte auf, später in der Nacht würde er ans Fernrohr gehen und, mehr aus Gewohnheit, als um noch etwas zu finden, das Band der Milchstraße in die Richtung der fernen Spiralnebel verfolgen. Er dachte an Humboldt. Gern hätte er ihm eine gute Rückkehr gewünscht, aber am Ende kam man nie gut zurück, sondern jedesmal ein wenig schwächer, und zuletzt gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn ja doch, den Hchtlöschenden Äther. Aber natürlich gebe es ihn, dachte Humboldt in seiner Kutsche, er habe ihn ja dabei, in einem der Fuhrwerke, nur erinnere er sich nicht mehr, wo, es seien Hunderte Kisten, und er habe den Überblick verloren.
Plötzlich wandte er sich Ehrenberg zu. Tatsachen! Aha, sagte Ehrenberg. Tatsachen, wiederholte Humboldt, die verblieben noch, er werde sie alle aufschreiben, ein un-geheures Werk voller Tatsachen, jede Tatsache der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle Tatsachen und nur sie, der ganze Kosmos noch einmal, allerdings ent-kleidet von Irrtum, Phantasie, Traum und Nebel; Fakten und Zahlen, sagte er mit unsicherer Stimme, die könnten einen vielleicht retten. Bedenke er zum Beispiel, daß sie dreiundzwanzig Wochen unterwegs gewesen seien, vierzehntausendfünfhundert Werst zurückgelegt und sechshundertachtundfünfzig Poststationen aufgesucht hätten und, er zögerte, zwölftausendzweihundertvier-undzwanzig Pferde benützt, so ordne sich die Wirrnis zur Begreiflichkeit, und man fasse Mut. Aber während die ersten Vororte Berlins vorbeiflogen und Humboldt sich vorstellte, wie Gauß eben jetzt durch sein Teleskop auf Himmelskörper sah, deren Bahnen er in einfache Formeln fassen konnte, hätte er auf einmal nicht mehr sagen können, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.
Der
Baum
Als Eugen die Küste verschwinden sah, zündete er sich die erste Pfeife seines Lebens an. Gut schmeckte sie nicht, aber wahrscheinlich konnte man sich daran gewöhnen. Er trug jetzt einen Bart und kam sich zum erstenmal nicht wie ein Kind vor.
Der Morgen nach seiner Verhaftung schien lange zurückzuliegen. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant war in seine Zelle gestürmt und hatte ihm zwei Ohrfeigen von solcher Wucht verpaßt, daß sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatten. Wenig später hatte das Verhör begonnen: Ein merkwürdig höflicher Mann im Gehrock fragte ihn traurig, warum er das getan habe. Mit dem Widerstand bei der Inhaftierung habe er sich in Teufels Küche gebracht, sei denn das nötig gewesen?
Aber er habe sich nicht gewehrt, rief Eugen.
Der Geheimpolizist fragte, ob er Preußens Polizei der Lüge bezichtigen wolle.
Eugen bat ihn, Kontakt mit seinem Vater aufzuneh-men.
Seufzend fragte der Geheimpolizist, ob er wirklich glaube, das habe man nicht längst getan. Er beugte sich vor, faßte Eugen vorsichtig an beiden Ohren und schlug seinen Kopf mit aller Kraft auf die Tischplatte.
Als Eugen zu sich kam, lag er in einem sauber bezoge-nen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit ver-gitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte, sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er solle froh sein.
Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an.
Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr weit.
Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde weinen vor Glück.
Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er das seiner Mutter habe antun können.
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