Humboldt seufzte bekümmert; es ärgerte ihn, daß nun ein anderer die Amazonasquellen finden würde. Um sich abzulenken, studierte er die Bilder von Sonnen, Monden und kompliziert gerollten Schlangen, die fast hundert Meter über dem Fluß in den Fels geritzt waren.
Früher müsse das Wasser höher gestanden haben, sagte der Soldat.
So hoch nicht, sagte Humboldt. Offenbar seien die Felsen niedriger gewesen. Er habe einen Lehrer in Deutschland, dem er das kaum mitzuteilen wage.
Oder fliegende Menschen, sagte der Soldat.
Humboldt lächelte.
Viele Wesen flögen, sagte der Soldat, und keiner finde etwas dabei. Hingegen habe noch niemand gesehen, wie ein Berg sich aufrichte.
Menschen flögen nicht, sagte Humboldt. Selbst wenn er es sähe, würde er es nicht glauben.
Und das sei dann Wissenschaft?
Ja, sagte Humboldt, genau das sei Wissenschaft.
Als das Boot wiederhergestellt und Bonplands Fieber gesunken war, traten sie den Rückweg an. Zum Abschied bat der Soldat Humboldt, in der Hauptstadt ein gutes Wort für ihn einzulegen, damit man ihn anderswohin versetze. Es sei ja nicht auszuhalten. Erst neulich habe er eine Spinne in seinem Essen gefunden, er hielt beide Handflächen nebeneinander, so groß! Zwölf Jahre, das sei einem Menschen nicht zuzumuten. Hoffnungsvoll schenkte er Humboldt zwei Papageien und winkte ihnen lange hinterher.
Mario hatte recht gehabt: Stromabwärts ging es schneller, und die Insekten waren in der Flußmitte nicht so ag-gressiv. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Jesuitenmission, wo Pater Zea sie mit Verwunderung begrüßte.
Er habe nicht erwartet, sie so bald wiederzusehen. Bemerkenswerte Robustheit! Wie seien sie mit den Kannibalen zurechtgekommen?
Er habe keine getroffen, sagte Humboldt.
Komisch, sagte Pater Zea. Praktisch alle Stämme dort unten seien Menschenfresser.
Könne er nicht bestätigen, sagte Humboldt und runzelte die Stirn.
Seine Missionsbewohner hätten seit ihrer Abfahrt keine Ruhe mehr gefunden, sagte Pater Zea. Es habe sie doch sehr aufgewühlt, daß man ihre Vorfahren aus den Gräbern geholt habe. Vielleicht sei es besser, sie wechselten gleich in ihr altes Boot und reisten weiter.
Es sehe aus, als stehe ein Unwetter bevor, wandte Humboldt ein.
Das dürfe man nicht abwarten, sagte Pater Zea. Die Lage sei ernst, und er könne für nichts garantieren.
Humboldt überlegte einen Moment. Der Obrigkeit, sagte er dann, müsse man Folge leisten.
Am Nachmittag darauf ballten sich Wolken zusammen, Donner rollte fern über die Ebene, und plötzlich waren sie im stärksten Gewitter, das sie je erlebt hatten.
Humboldt ließ die Segel streichen und Kisten, Leichen und Tierkäfige auf einer Felseninsel abladen.
Das habe man nun davon, sagte Julio.
Regen habe noch keinem geschadet, sagte Mario.
Regen schade jedem, sagte Carlos. Er könne einen umbringen. Er habe schon manchen umgebracht.
Sie würden nie mehr heimkommen, sagte Julio.
Und wenn schon, sagte Mario. Daheim habe es ihm nie gefallen.
Daheim, sagte Carlos, sei der Tod.
Humboldt wies sie an, das Boot drüben am Ufer zu vertäuen. Sie legten ab, in diesem Moment ließ eine Flut-welle den Fluß anschwellen und riß das Boot mit. Bonpland und Humboldt sahen noch, wie eines der Ruder davonflog, dann nahm das schäumende Wasser ihnen die Sicht. Sekunden später blitzte das Boot noch einmal weit in der Ferne auf, dann war es mit allen vier Ruderern dahin.
Und jetzt, fragte Humboldt.
Da sie nun einmal hier seien, sagte Bonpland, könnten sie doch die Felsen untersuchen.
Eine Höhle führte unter einen der Katarakte. Über ihren Köpfen donnerte das Wasser, durch Löcher in der Decke stürzte es in breiten Säulen herab, zwischen denen man trocken stehen konnte. Mit heiserer Stimme schlug Bonpland vor, die Temperatur zu messen.
Humboldt wirkte erschöpft. Er könne es nicht erklä-
ren, aber in manchen Augenblicken sei er nahe daran, alles fahrenzulassen. Mit langsamen Bewegungen hantierte er an den Instrumenten. Und jetzt hinaus, die Höhle könne jeden Moment überschwemmt werden!
Eilig liefen sie ins Freie.
Der Regen hatte an Stärke gewonnen. Das Wasser er-goß sich über sie wie aus Eimern, tränkte ihre Kleider, füllte die Schuhe und machte den Boden so glitschig, daß sie kaum Halt fanden. Sie setzten sich und warteten.
Krokodile glitten durch die Gischt. In den Käfigen brüllten die Affen, trommelten an die Türen und rissen an den Gittern. Die zwei Papageien hingen wie durchnäßte Handtücher an ihren Stangen. Der eine glotzte bedrückt vor sich hin, der andere murmelte unablässig Beschwerden in schlechtem Spanisch.
Und was, fragte Humboldt, wenn das Boot nicht zu-rückkomme?
Das werde es schon, sagte Bonpland. Nur die Ruhe.
Der Regen, als wollte der Himmel sie von der Insel spülen, wurde noch stärker. Der Horizont flackerte von Blitzen, der Donner brach sich an den Uferfelsen jenseits des Flusses, so daß das Echo jedes Schlages sich in den nächsten mischte.
Nicht gut sei das, sagte Humboldt. Sie seien von Wasser umgeben und säßen am höchsten Punkt. Hoffentlich habe Herr Franklin mit seiner Theorie des Blitzschlags unrecht.
Bonpland holte schweigend seine Flasche hervor und trank.
Und er sei überrascht, sagte Humboldt, daß es in den Stromschnellen so viele Echsen gebe. Das widerspreche den Annahmen der Zoologie.
Bonpland nahm noch einen Schluck.
Andererseits habe man ja Beispiele für Fische, die sogar Wasserfälle emporklettern könnten.
Bonpland zog die Augenbrauen hoch. Der Donner war zu einem nicht mehr nachlassenden Getöse geworden.
Am anderen Ende der Insel, keine fünfzig Schritte von ihnen, wuchtete sich etwas Großes und Dunkles auf den Stein.
Wenn sie stürben, sagte Humboldt, würde niemand von ihnen erfahren.
Und wenn schon, sagte Bonpland und warf die leere Flasche weg. Tot sei tot.
Humboldt sah besorgt nach dem Krokodil. Falls sie zurück zur Küste kämen, werde er alles seinem Bruder schicken: Pflanzen, Karten, Tagebücher und Sammlungen. Auf zwei getrennten Schiffen. Dann erst werde er zu den Kordilleren aufbrechen.
Den Kordilleren?
Humboldt nickte. Er wolle die großen Vulkane sehen. Die Neptunismusfrage müsse ein für allemal geklärt werden.
Bald wußten sie nicht mehr, wie lange sie warteten.
Einmal war eine tote Kuh vorbeigetrieben, dann der Deckel eines Klaviers, dann ein Schachbrett und ein zerbrochener Schaukelstuhl. Humboldt holte vorsichtig die Uhr hervor, horchte auf ihr leises Pariser Ticken und spähte durch die Wachstuchhülle nach den Zeigern. Entweder war der Beginn des Gewitters erst wenige Minuten her, oder sie saßen schon über zwölf Stunden fest, oder aber der Regen hatte nicht bloß Fluß, Wald und Himmel, sondern die Zeit selbst durcheinandergebracht, hatte ein paar Stunden einfach fortgespült, so daß der neue Mittag mit der Nachtstunde und dem nächsten Morgen zusammenfloß. Humboldt legte die Arme um seine Knie.
Manchmal, sagte er, wundere es ihn. Von Rechts wegen hätte er Bergwerke inspizieren sollen. Hätte ein deutsches Schloß bewohnt, Kinder gezeugt, sonntags Hirsche gejagt und einmal im Monat die Stadt Weimar aufgesucht. Und nun sitze er hier, bei Sintflut, unter fremden Sternen, ein Boot erwartend, das nicht kommen werde.
Bonpland fragte, ob es ihm als Fehler erscheine. Schloß, Kinder, Weimar. Das sei doch etwas!
Humboldt nahm seinen Hut ab, den das Wasser in einen nutzlosen Klumpen verwandelt hatte. Eine Fledermaus stieg aus dem Wald, verfing sich im Sturm, wurde vom Regen hinuntergedrückt und nach ein paar Flügelschlägen vom Wasser mitgerissen.
Der Gedanke sei ihm nie gekommen.
Nicht für eine einzige Sekunde?
Humboldt beugte sich vor und spähte nach dem Krokodil. Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.
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