In der Stadt San Fernando verkauften sie ihre Maultiere und erstanden ein breites Segelboot mit einem Holz-verschlag, Lebensmittel für einen Monat und zuverlässige Gewehre. Humboldt erkundigte sich nach Leuten, die Erfahrung mit dem Fluß hatten. Man wies ihn zu vier vor einer Schenke sitzenden Männern. Einer trug einen Zylinder, einem klemmte ein Schilfrohr im Mundwinkel, einer war behängt mit Unmengen von Messingschmuck, der vierte war bleich und arrogant und sprach kein einziges Wort.
Humboldt fragte, ob sie den Kanal zwischen Orinoko und Amazonas kennen würden.
Natürlich, sagte der mit dem Zylinder.
Er habe ihn schon befahren, sagte der mit dem Schmuck.
Er auch, sagte der mit dem Zylinder. Aber es gebe ihn nicht. Alles ein Gerücht.
Humboldt schwieg verwirrt. Wie auch immer, sagte er dann, er wolle diesen Kanal vermessen, er brauche erfah-rene Ruderer.
Der mit dem Zylinder fragte, was zu gewinnen sei.
Geld und Wissen.
Der dritte nahm mit zwei Fingern das Schilfrohr aus dem Mund. Geld, sagte er dann, sei besser als Wissen.
Viel besser, sagte der mit dem Zylinder. Übrigens sei das Leben teuflisch kurz, warum es aufs Spiel setzen?
Weil es kurz sei, sagte Bonpland.
Die vier sahen einander an, dann Humboldt. Sie hie-
ßen, sagte der mit dem Zylinder, Carlos, Gabriel, Mario und Julio, und sie seien gut, aber billig seien sie nicht.
In Ordnung, sagte Humboldt.
Auf dem Weg zur Herberge folgte ihm ein struppiger Schäferhund. Humboldt blieb stehen, der Hund kam heran und drückte die Nase gegen seinen Schuh. Als Humboldt ihn hinter den Ohren kraulte, rülpste er, dann winselte er glücklich, wich zurück und knurrte Bonpland an.
Der gefalle ihm, sagte Humboldt. Offenbar habe er keinen Herrn. Den nehme er mit.
Das Boot sei zu klein, sagte Bonpland. Der Hund sei bissig und rieche nicht gut.
Man werde sich schon verstehen, sagte Humboldt und ließ den Hund in seinem Herbergszimmer schlafen. Als die beiden am nächsten Morgen zum Boot kamen, waren sie schon aneinander gewöhnt, als hätten sie immer zusammengelebt.
Von Hunden sei nie die Rede gewesen, sagte Julio.
Weiter südlich, sagte Mario und schob seinen Zylinder zurecht, wo die Leute wahnsinnig seien und rückwärts sprächen, gebe es Zwerghunde mit Flügeln. Das habe er selbst gesehen.
Er auch, sagte Julio. Aber jetzt seien sie ausgerottet.
Gefressen von den sprechenden Fischen.
Seufzend bestimmte Humboldt mit Sextant und Chronometer die Position der Stadt, wieder einmal waren die Karten ungenau gewesen. Dann legten sie ab.
Bald schon hatten sie die letzten Spuren der Besiedlung hinter sich. Überall sahen sie Krokodile: Die Tiere schwammen im Wasser wie Baumstämme, dösten am Ufer und rissen die Mäuler auf, über ihre Rücken trippelten kleine Reiher. Der Hund sprang ins Wasser, sofort schwamm ein Krokodil auf ihn zu, und als Bonpland ihn wieder ins Boot zog, blutete seine Pfote von den Bissen eines Piranhas. Lianen berührten die Wasserfläche, Stäm-me neigten sich über den Fluß.
Sie vertäuten das Boot, und während Bonpland Pflanzen sammelte, machte Humboldt einen Spaziergang. Er stieg über Wurzeln, zwängte sich zwischen Stämmen hindurch, strich die Fäden eines Spinnennetzes aus seinem Gesicht. Er löste Blüten von Sträuchern, brach einem besonders schönen Falter mit geschicktem Griff den Rük-ken und legte ihn liebevoll in seine Botanisiertrommel.
Dann erst bemerkte er, daß er vor einem Jaguar stand.
Das Tier hob den Kopf und sah ihn an. Humboldt machte einen Schritt zur Seite. Ohne sich zu bewegen, zog das Tier eine Lefze hinauf. Humboldt wurde starr.
Nach sehr langer Zeit legte es den Kopf auf die Vorder-pfoten. Humboldt machte einen Schritt zurück. Und noch einen. Der Jaguar sah ihn aufmerksam, ohne den Kopf zu heben, an. Sein Schwanz schlug nach einer Fliege. Humboldt drehte sich um. Er horchte, aber er hörte nichts hinter sich. Mit angehaltenem Atem, die Arme an den Körper gepreßt, den Kopf auf die Brust gesenkt und den Blick auf die Füße geheftet, ging er los. Langsam, Schritt für Schritt, dann allmählich schneller. Er durfte nicht stolpern, er durfte nicht zurückblicken. Und dann, er konnte nicht anders, begann er zu laufen. Aste hieben ihm ins Gesicht, ein Insekt prallte gegen seine Stirn, er strauchelte, hielt sich an einer Liane fest, ein Ärmel blieb hängen und zerriß, er schlug Zweige aus dem Weg.
Schwitzend und außer Atem erreichte er das Boot.
Sofort ablegen, keuchte er.
Bonpland griff nach dem Gewehr, die Ruderer erhoben sich.
Nein, sagte Humboldt, ablegen!
Das seien gute Waffen, sagte Bonpland. Man könnte das Vieh erlegen und hätte eine schöne Trophäe.
Humboldt schüttelte den Kopf.
Aber warum nicht?
Der Jaguar habe ihn gehen lassen.
Bonpland murmelte etwas von Aberglauben und machte die Leinen los. Die Ruderer grinsten. In der Mitte des Stromes kam Humboldt die eigene Furcht schon nicht mehr verständlich vor. Er entschied, die Ereignisse im Tagebuch so zu beschreiben, wie sie sich hätten abspielen sollen: Er würde behaupten, sie wären zurück ins Unterholz gegangen, die Gewehre im Anschlag, doch ohne das Tier zu finden.
Noch bevor er fertiggeschrieben hatte, begann ein Wolkenbruch. Das Boot füllte sich mit Wasser, hastig steuerten sie an Land. Dort erwartete sie, nackt, bärtig und vor Schmutz kaum erkennbar, ein Mann. Dies sei seine Pflanzung, gegen Entgelt könnten sie übernachten.
Humboldt bezahlte und fragte, wo das Haus sei.
Er habe keines, sagte der Mann. Er sei Don Ignacio, kastilischer Adeliger, und die ganze Welt sei sein Haus.
Dies seien übrigens seine Gattin und Tochter.
Humboldt verbeugte sich vor den zwei nackten Frauen und wußte nicht, wo er hinsehen sollte. Die Ruderer befestigten Stoffplanen an den Bäumen und kauerten sich darunter.
Don Ignacio fragte, ob sie noch etwas brauchten.
Im Moment nicht, sagte Humboldt erschöpft.
Keiner seiner Gäste, sagte Don Ignacio, werde je Mangel leiden. Würdevoll drehte er sich um und ging davon.
Der Regen perlte über seinen Kopf und seine Schultern.
Es roch nach Blüten, feuchter Erde und Dung.
Manchmal, sagte Bonpland nachdenklich, komme es ihm schier rätselhaft vor, daß er hier sei. Unendlich weit von daheim, von niemandem losgeschickt, bloß eines Preußen wegen, den er im Treppenhaus getroffen habe.
Humboldt fand lange keinen Schlaf. Die Ruderer hörten nicht auf, einander wirre Geschichten zuzuflüstern, die sich in seinem Bewußtsein festsetzten. Und jedesmal, wenn er es doch schaffte, die fliegenden Häuser, bedroh-lichen Schlangenfrauen und Kämpfe um Leben und Tod beiseite zu schieben, sah er die Augen des Jaguars. Aufmerksam, klug und ohne Gnade. Dann kam er zu sich und hörte wieder den Regen, die Männer und das ängst-liche Knurren des Hundes. Irgendwann kam Bonpland, wickelte sich in seine Decke und schlief sofort ein. Humboldt hatte ihn nicht weggehen hören.
Am nächsten Morgen, die Sonne stand hoch am Himmel, und es schien nie geregnet zu haben, verabschiedete Don Ignacio sie mit der Geste eines Schloßbesitzers. Sie seien hier immer willkommen! Seine Frau machte einen höfischen Knicks, seine Tochter strich Bonpland über den Arm. Der legte ihr die Hand auf die Schulter und zupfte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
Der Wind war heiß, als käme er aus einem Ofen. Der Uferbewuchs wurde dichter. Unter den Bäumen lagen weiße Schildkröteneier, Eidechsen klammerten sich wie hölzerne Verzierungen an den Bootsrumpf. Immer wieder strichen Spiegelungen von Vögeln übers Wasser, selbst wenn der Himmel leer war.
Ein wundersames optisches Phänomen, sagte Humboldt.
Das habe nichts mit Optik zu tun, sagte Mario. Vögel stürben unablässig, in jedem Moment, eigentlich täten sie wenig anderes. Ihre Geister lebten in den Spiegelungen fort. Irgendwo müßten sie ja hin, im Himmel wolle man sie nicht.
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