»Einem wie dir steht Reue nicht zu«, stieß ich verbittert hervor.
»Ich habe meine Strafe schon seit langem bekommen«, fuhr er fort. »Weil ich mit einer Frau gelebt habe, die nie aufgehört hat, mich zu hassen.« Leise, als spreche er mit sich selbst, murmelte er: »Zwanzig Jahre lang versuchte ich vergeblich, ihr Herz zu erobern.«
Zwanzig Jahre! Wie viele Jahre verlorenen Lebens.
Da hatte ich die Antwort auf meine nicht gestellte Frage, und sie traf mich wie ein Dolchstoß. Was für ein seltsamer Reisender, der bereits Mitte vierzig war und eines Tages in diesem Loch sterben würde, ohne auch nur ein Ziel erreicht zu haben, ohne das Vergnügen am Leben ausgekostet zu haben, ohne auch nur einer Pflicht nachgekommen zu sein. Und dass sich dieser Schurke hier bei mir, in diesem Grab, befand, machte mein Elend nur noch größer. Er war die leibhaftige Erinnerung an meine Fehlschläge, an mein Unglück, an mein Scheitern. Die Gesichter meiner Leidensgefährten hingegen glühten vor Freude, hofften sie doch allen Ernstes darauf, in der nächsten Stunde begnadigt zu werden.
Was ich nicht für möglich gehalten hatte, geschah. Eines Tages erschien der Gefängnisdirektor und erklärte : »Es ist der Wille des neuen Gottes, den Opfern des abgesetzten, falschen Königs die Freiheit zu schenken.«
Wir sprangen auf, brachten Hochrufe auf den neuen Gott aus und schworen ihm Treue. Einer nach dem anderen trat ins Freie, nur der alte Desing blieb an seinem Platz. Da wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bedeckten wir, um uns vor dem hellen, schmerzenden Licht zu schützen, die Augen mit den Händen. Ein Offizier brachte mich zum Fremdenbüro, wo mich der Direktor empfing. »Es tut uns Leid«, sagte er, »dass Ihnen solch schweres Unrecht angetan wurde. Damit wurde gegen alle Gesetze und Prinzipien des Hairalands verstoßen. Wir haben beschlossen, Ihnen Ihr Hab und Gut zurückzuerstatten, mit Ausnahme der Sklavin. Sie hat das Land verlassen.«
Auf der Stelle suchte ich ein öffentliches Bad auf und ließ mir Kopf und Körper rasieren. Ich nahm ein heißes Bad und rieb meinen Körper mit Balsam ein, um die Läuse und Wanzen zu vertreiben. Danach ging ich zum Gasthaus. Ich war gespannt, wie die Begegnung mit Herrn Ham ausfallen würde. Doch leider traf ich ihn nicht an, er war gestorben. Sein Neffe, er hieß Tad, hatte Herrn Hams Tochter geheiratet und leitete nun das Gasthaus. Die Überraschung, vor Herrn Ham zu treten, fiel also aus, dafür bot sich mir eine andere, nämlich ich selbst, als ich. vor den Spiegel trat. Das also war Kindil, der zwanzig Jahre lang in einem Grab gelegen hatte und nun vom Tod auferstanden war. Vor mir stand ein Mann in reifem Alter, Kopf und Bart frisch rasiert, abgemagert bis auf die Knochen, eingesunkene, düstere Augen, stumpfer Blick, hervorstehende Wangenknochen. Da beschloss ich, so lange in Haira zu bleiben, bis Körper und Geist wieder zu Kräften gekommen waren. Ich trat hinaus auf die Straße, um einen Spaziergang zu machen. Es ging mir nicht darum, Neues zu entdecken, sondern meine Füße ans Gehen zu gewöhnen.
Meine Gedanken kreisten um die Frage, wie meine Zukunft aussehen würde. Sollte ich in die Heimat mit leeren Händen zurückkehren oder meine Reise fortsetzen, um Neues zu erkunden und an die Türen des Schicksals zu klopfen? Ich hasste den Gedanken, als Versager zurückzukehren. Außerdem sagte mir mein Herz, dass man mich bestimmt für tot hielt und niemand auf mich wartete oder sich Gedanken um meine Heimkehr machte. Es war ja durchaus möglich, dass die Menschen, an denen mir etwas lag, gestorben waren. Dann würde ich nichts Vertrautes, sondern nur Fremdes wiederfinden. Nein, zurückkehren würde ich nicht. Ich wollte nicht zurückschauen. Als Reisender war ich aufgebrochen, also würde ich meine Reise auch fortsetzen. Dazu hatte ich mich entschieden, und das war mein Schicksal. Traum und Tat gehören zusammen wie Anfang und Ende. Also auf ins Halbaland, und weiter und weiter, bis ins Gaballand. Ach, meine liebste Arusa, wie magst du wohl nun, mit vierzig Jahren, aussehen?
So träge die letzten Tage verflossen waren, so bedächtig und würdevoll setzte sich die Karawane in Gang. Der Aufbruch fand im zarten Dunkel des Morgengrauens statt, aber dieses Mal geriet ich nicht in eine dichterische Stimmung, sondern es bedrängten mich schmerzliche Erinnerungen an das Gefängnis und der Kummer über ein vertanes Leben. Ich sah mir meine Reisegefährten an, und gehörten sie auch einer neuen Generation an, zeichneten sie doch Eigenschaften aus, die Händlern schon immer eigen waren — Tatkraft, das Mehren von Geld, die Ruhmessucht der Abenteurer. Mit Träumern, die zögern und zaudern, hatten sie nichts zu tun. All meine früheren Fehlschläge stürmten auf mich ein — die Stunde des Abschieds in der Heimat, die vom Schmerz um Halima gezeichnet war; der Tag, an dem ich aus dem Maschrikland gejagt wurde und um Arusa weinte; der Moment, da ich dem Hairaland Lebewohl sagte und den Verlust von Glück und Jugend beklagte. Ich merkte auf, schaute in Richtung Osten : Rosigen Wellen gleich überflutete die Dämmerung den Himmel, und die Sonne stieg stetig, wie in den letzten zwanzig Jahren auch, höher und höher. Vor uns erstreckte sich die endlose Wüste in ihrer ganzen Erhabenheit, ein heißer Sommertag kündigte sich an.
Bei einer Rast fragte ich den Besitzer der Karawane nach al-Kani Ibn Hamdis. »Gott sei seiner armen Seele gnädig«, bekam ich zur Antwort. Ich fragte ihn auch nach Scheich Marara al-Gibaili, aber weder er noch die anderen Männer hatten den Namen je gehört. Vier Wochen waren wir unterwegs, bis wir endlich vor der Grenze des Halbalands in Schama Halt machten. Mein Bart wuchs, das Haar auf dem Kopf auch, und ich spürte, wie das Blut in meinen Adern wieder kräftig pulsierte. Im Schein der Mondsichel rückten wir auf das große Stadttor vor. Der Kommandant, der für den Zoll zuständig war, trat heraus. Bekleidet mit einer leichten Jacke, die der warmen Sommerzeit angemessen war, kam er zu uns. Mit fröhlicher Stimme rief er: »Willkommen in Halba, der Hauptstadt des Halbalands, dem Land der Freiheit.«
Hier war es wieder, dieses verfluchte Wort Freiheit — andererseits war ich erstaunt, dieses Mal keine versteckte oder offene Warnung herauszuhören. »Das ist das erste Land, in dem Fremden nicht als Erstes gedroht wird«, sagte ich zum Besitzer der Karawane.
Er lachte. »Sicher, das ist das Land der Freiheit, aber als Fremder sollte man dennoch auf der Hut sein.«
Man brachte mich ins Gasthaus. Unterwegs zeigten sich mir im Mondenlicht die Sehenswürdigkeiten der Stadt, sie waren beeindruckend. Vor allem bot sich mir aber ein völlig neuer Anblick: von Fackeln beleuchtete Sänften, die trotz der späten Stunde kamen und gingen. Die Eingangshalle des Gasthauses war angenehm geräumig, und von der Decke hingen Kronleuchter herab, an denen sich mein Auge nicht satt sehen konnte. Das Gasthaus selbst war ein gewaltiges Gebäude, bei dem sich die Kunst des Bauens und die Gnade des Reichtums in schönster Weise verbanden. Ich betrat mein Zimmer und erlebte die nächste Überraschung: Die Wände waren blau gestrichen, den Boden bedeckte ein teurer Teppich, und auf dem hochbeinigen Messingbett lagen brokatene Decken. Solch eine kostbare Ausstattung gab es in meiner Heimat nur in den Häusern der Oberschicht. All das deutete daraufhin, dass es in diesem Land einen Grad an Zivilisation gab, der den im Hairaland noch um etliches übertraf. Plötzlich ertappte ich mich wieder einmal bei der Frage, wo Arusa sich jetzt wohl befand und wie es ihr gehen mochte. Noch bevor ich mich meinen Erinnerungen überlassen konnte, kam ein Mann mittleren Alters ins Zimmer, der eine blaue Jacke und kurze weiße Hosen trug. »Ich bin Kaischam, der Besitzer des Gasthauses«, erklärte er.
Nachdem ich mich vorgestellt hatte, fragte er, ob ich einen Wunsch habe. »Ich möchte erst einmal schlafen«, erwiderte ich, »aber ich würde gern wissen, was das Zimmer kostet.«
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