Keiner von ihnen hatte je Gott infrage gestellt, das wäre ein Verbrechen gewesen, für das sie geköpft worden wären. Man hatte sie wegen kritischer Fragen angezeigt, bei denen es um Gerechtigkeit und die Freiheit des Menschen ging. Ich sah einen alten Mann, der über achtzig Jahre alt war. Er saß bereits fünfzig Jahre im Gefängnis, war also noch unter dem Vorgänger des jetzigen Königs eingesperrt worden. Er hatte den Verstand verloren und wusste weder wo noch warum er sich hier befand. Völlig abgemagert lag er den ganzen Tag ausgestreckt auf seinem Fell.
»Wenn hier einer unseren Glückwunsch verdient, dann er«, sagte einer der Männer.
Ich glaubte ihm aufs Wort. Unsere Gedanken kreisten um das Wohl und Wehe des Menschen in dieser Welt.
»Es gibt kein glückliches Land.«
»Das Leiden vereint die Menschen.«
»Und wir, wir wissen uns nicht zu helfen, angesichts der hässlichen Wirklichkeit und eines Traums, der nie in Erfüllung gehen wird.«
»Aber es gibt Länder, die zumindest besser als unseres sind.«
»Ach was, dass die Menschen glücklich und zufrieden leben, das ist ein unerreichtes Ziel.«
»Und das Gaballand?«
Als ich dieses magische Wort hörte, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Voller Wehmut erinnerte ich mich an das Ziel meiner Reise, das ich nie mehr erreichen würde. »Was wisst ihr über das Gaballand?«, fragte ich begierig.
»Nicht viel mehr als das Übliche, dass es angeblich das Land der Vollkommenheit sei.«
»Vielleicht hat einer etwas darüber gelesen? Oder hat jemanden getroffen, der dieses Land besucht hat?«
»Leider nicht, wir kennen es nur vom Hörensagen.«
»Wer kann denn diesen Traum je wahr machen?!«
»Der Mensch. Das kann nur der Mensch.«
Ich war müde der Reden, müde der Seufzer, müde der trügerischen Hoffnungen. Im Innern sagte ich mir, dass dieses Gefängnis für alle Zeiten meine Welt sein würde.
Seltsamerweise bot mir die geistige Haltung meines alten Lehrers, Scheich Marara, keinen Halt; das logische Denken, das ich bei ihm gelernt hatte, nützte mir nichts. Dafür half mir aber die Schlichtheit meiner Mutter über meine Verzweiflung ein wenig hinweg. Ihre Art zu denken schien wie geschaffen fürs Gefängnis. Ich ergab mich in mein Schicksal und sagte mir, dass alles Gottes Wille sei. >Was mir geschieht, kommt von Ihm.< Ich übte mich in Demut, verabschiedete mich endgültig von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das Einzige, worauf ein Gefangener wie ich hoffte, war, jegliche Hoffnung ersticken zu können. Es hieß, sich an das Grab zu gewöhnen, das mich verschlungen hatte, und mich der Verzweiflung zu überlassen, die jede Zelle meines Körpers beherrschte. Fort mit den Gespenstern der Vergangenheit, wie auch immer sie heißen mögen -Heimat, Mutter, Arusa, Kinder, Gaballand. Gewöhn dich an den modrigen Geruch, denn einen anderen gibt es nicht. Finde dich mit dem Halbdunkel ab, denn heller wirds nicht mehr. Kümmere dich nicht um das Ungeziefer, denn das ist sein angestammter, rechtmäßiger Platz.
Schmerz und Langeweile waren die treuen Gefährten; immer öfter tauchte ich in Tiefen ab, die bodenlos waren. Es herrschte grenzenlose Stille. Qualen wurden zur Gewohnheit, doch aus der Verzweiflung erwuchs eine seltsame Kraft, die einem Geduld verlieh und einen weiterleben ließ.
Eine Stimme zerriss das Schweigen. »Vor grauen Zeiten soll ein Gefangener auf einmal eine solche Kraft verspürt haben, dass es ihm gelang, die Mauer zu durchbrechen, sich in die Luft aufzuschwingen und über alle Grenzen hin wegzufliegen.«
Ich nahm dieses Geschwätz gleichgültig hin. Einen Tag später, oder ein Jahr später, sagte eine andere Stimme: »Vielleicht kommt es zwischen dem Hairaland und dem Halbaland zu einem Krieg, dann könnten wir wieder ans Licht kriechen.«
Ich verzieh es, dass mich jemand ans Licht erinnerte, denn das Einzige, woran mir lag, war, den Verstand zu verlieren und glücklich wie der alte Mann zu sein. Stufe um Stufe stieg ich in dunkle Gefilde hinab; jegliches Gefühl für Zeit ging verloren, alle Bindung ans Leben zerriss, alles Vergangene war verschwunden. Ich kümmerte mich nicht um Stunde, Tag, Monat, Jahr. Nichts ließ mich aufmerken, mein Dasein war mir zu einem einzigen Rätsel geworden. Ich wurde älter und älter, zählte nicht mehr mit. Wie ich aussah, wusste ich nicht. Nur wenn ich meine Leidensgefährten ansah, ahnte ich, was für ein Ausbund von Hässlichkeit und Dreck ich geworden war. Die einzigen Wesen, die sich in diesem dunklen Loch glücklich fühlten, waren die Läuse, Wanzen, Schaben und was sonst noch so herumkroch. Generation um Generation, Epoche um Epoche würden wir die Vergänglichkeit in ihrer erhabenen Ewigkeit auskosten müssen. So ging alles weiter und weiter und weiter… Aber plötzlich geschah doch etwas — ein neuer Gefangener wurde in unser Loch geworfen. Wie Ungeziefer krochen wir an ihn heran und bestaunten das Wesen, das aus der anderen Welt kam. Es war ein alter Mann, er sah erbärmlich aus, aber irgendwie kam es mir vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Unser greiser Gefährte war vor etlicher Zeit gestorben, nun sollte also dieser Mann seinen Platz einnehmen. Er schaute uns an und begann zu weinen.
»Heul nicht, das schadet den Läusen«, sagte jemand.
»Wer bist du?«, wollte ein anderer wissen.
»Ich bin der weise Desing«, erwiderte der Alte weinerlich.
Auf einen Schlag erwachte ich aus meinem stumpfen Dahindämmern, und mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam, rief ich: »Desing! Wie konnte ich dich nur vergessen!«
»Wer bist du?«
Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. »Ich bin dein Opfer!«, schrie ich.
Fast demütig flehend stammelte er: »Im Unglück sind wir alle gleich.«
»O nein, das sind wir keineswegs!«
»Die Welt ist aus den Fugen geraten«, jammerte er. »Der Führer des Heers hat gegen den König rebelliert und ihn umgebracht. Jetzt sitzt er auf seinem Thron.«
Meine Leidensgefährten und ich spürten, wie das Leben in uns zurückkehrte. Ein Freudenschauder überlief mich.
»Was ist jetzt da oben los?«, fragte jemand.
»Die Anhänger des Königs sind alle tot, mich hat man zu lebenslanger Haft verurteilt.«
Erfüllt von den schönsten Hoffnungen, ließen die Männer den neuen Gott hochleben.
»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fuhr ich den Alten wütend an.
»Wer bist du?«, fragte er ängstlich.
»Ich bin der Besitzer von Arusa, erinnerst du dich jetzt an mich?«
Erschrocken wich er zurück.
»Was ist mit ihr passiert, du Schurke?«
»Wir wollten mit einer Karawane ins Halbaland fliehen«, flüsterte er. »Aber dann hat man mich verhaftet, und sie ist allein abgereist.«
»Was ist mit ihren Kindern?«
»Ich bin mit ihr ins Maschrikland gefahren, um die Kinder zu suchen. Aber wir haben sie nicht gefunden. Das ist alles schon sehr lange her.«
Ich vergaß meine Traurigkeit und manch anderes auch, doch meine Wut stieg ins Unermessliche. »Du bist kein Weiser, sondern ein hundsgemeiner Verbrecher!«, schrie ich. »Es hat dir nichts ausgemacht, ein falsches Zeugnis abzulegen, nur um mir meine Frau zu nehmen. Gut, dass du hier sitzt, ein schneller Tod wäre eine zu leichte Strafe für dich.«
Von oben durch den Schacht rief der Wächter, dass ich mich von ihm entfernen solle. Plötzlich übermannte mich frischer Lebensmut, und das war wohl zu viel für meinen geschwächten Körper, denn ich taumelte, als ich an meinen Platz zurückging. Ich setzte mich auf mein Fell, lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer an und streckte die Beine aus. Wieder verspürte ich den warmen Hauch des Lebens. Ich hätte den Kerl gerne gefragt, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber der Gedanke, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen, war mir verhasst. Er hingegen wandte den Blick nicht von mir ab, und schließlich sagte er: »Es tut mir Leid, und ich bereue, was ich getan habe.«
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