»Was? Da wird ihre Strafe nicht gering ausfallen.«
Der Scheich nahm den Turban ab, strich sich über den Kopf und setzte den Turban wieder auf. »Die Freiheit ist ein Wert, der allen heilig ist.«
»Aber diese Freiheit überschreitet bei weitem die Grenzen des Islam!«, rief ich empört.
»Sie gilt auch dem hiesigen Islam als heiliger Wert.«
Enttäuscht murmelte ich: »Würde unser Prophet auferstehen und müsste er das erleben, würde er eure Art von Islam auf das Schärfste verurteilen.«
»Würde er, Heil und Segen über ihn, auferstehen, müsste er dann nicht euren Islam auch verurteilen?«, fragte er zurück.
Wie Recht der Mann hatte, ich fühlte mich zutiefst beschämt.
»Ich kenne mich aus, denn ich bin oftmals in den Ländern des Islam herumgereist.«
»Deshalb bin ich aufgebrochen, Scheich Hamada. Ich wollte mein Heimatland aus der Ferne sehen und mit anderen Ländern vergleichen. Vielleicht habe ich, wenn ich zurückkehre, nützliche Ratschläge im Gepäck.«
»Daran tun Sie gut, möge Gott Ihnen Erfolg schenken. Unser Land wird Sie vieles lehren.«
Meine Neugier war geweckt. »Wenn Sie gestatten, könnten wir gelegentlich weitere Gespräche führen. Im Augenblick würde ich vor allem gern wissen, wer in diesem seltsamen Land die Macht ausübt.«
»Unser System ist einzigartig. Ähnliches haben Sie noch nicht kennen gelernt und werden es auch nicht kennen lernen.«
»Nicht einmal im Gaballand?«
»Ich kenne die dortigen Verhältnisse nicht gut genug, um einen Vergleich anzustellen. Sie müssen wissen, dass unser Präsident gewählt wird. Wer sich für das Amt bewirbt, wird nach geistigen, moralischen und politischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Amtszeit dauert zehn Jahre, dann tritt der Präsident zurück. Bis zur Wahl, für die der zurückgetretene Präsident durchaus nochmals kandidieren darf, übernimmt der Oberste Richter das Amt.«
»Großartig!«, rief ich begeistert.
»Die Moslems hätten gut daran getan, diese Ordnung als Erste einzuführen. Übrigens steht dem Präsidenten ein Rat von Sachkundigen zur Seite, die ihm in allen Fragen helfen, sich eine Meinung zu bilden.«
»Ist dann seine Meinung bindend?«
»Gibt es unterschiedliche Auffassungen, tritt die gesamte Regierung zurück, und es gibt Neuwahlen.«
»Das ist ja fantastisch!«
»Was die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel betrifft, werden diese Bereiche von leistungsstarken und sachverständigen Kräften geleitet.«
»Also gibt es Reiche und Arme.«
»Wie es auch Arbeitslose, Diebe und Mörder gibt.«
Ich schmunzelte. »Nun ja, vollkommen ist nur Gott«, bemerkte ich etwas ironisch.
Er sah mich ernst an. »Wir haben beachtliche Verbesserungen erreicht.«
»Ihr braucht doch bloß die islamische Gesetzgebung einzuführen!«
»Bei euch ist sie geltendes Recht. Und weiter?«
»Ist sie eben nicht«, erwiderte ich trotzig.
»In diesem Land ist jeder einer grundlegenden Doktrin verpflichtet. Sie wird nach Buchstabe und Geist angewendet.«
»Also ist die Regierung nur für die innere Sicherheit und die Landesverteidigung verantwortlich?«
»Und für öffentliche Anliegen, die einzelne Leute nicht übernehmen können, zum Beispiel der Unterhalt von Parks, Brücken, Museen. Es gibt auch staatliche Schulen, in denen begabte Kinder aus armen Familien kostenlos eine Ausbildung erhalten. Das Gleiche gilt für Krankenhäuser. Aber im großen Ganzen ruht die Verantwortung auf den Schultern Einzelner.«
Ich überlegte ein Weilchen, bevor ich sagte: »Wahrscheinlich haltet ihr euch für das glücklichste Volk auf Erden.«
»Es ist alles relativ zu sehen, Kindil. Solange es Arme und Reiche gibt, solange Menschen Verbrechen begehen, ist eine solche Einschätzung vermessen. Abgesehen davon ist unser Leben nicht frei von Ängsten, denn sowohl wir als auch das Hairaland im Süden und das Amanland im Norden werden von Begehrlichkeiten getrieben. Diese einzigartige Zivilisation ist bedroht, sie könnte in einer Schlacht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Selbst ein Sieg könnte den Untergang bedeuten, wenn nämlich die Schäden zu groß sind und uns zu Grunde richten. Außerdem muss ich einräumen, dass die Differenzen zwischen den Religionen nicht immer friedlich ausgetragen werden.«
Er hielt inne, dann fragte er mich nach meinen Reiseplänen. Ich erzählte ihm kurz, was ich seit der Abreise aus meiner Heimat erlebt hatte. Er schaute mich mitleidig an und wünschte mir Glück und Erfolg auf den Weg. »Ich würde Ihnen raten, eine Sänfte zu mieten, denn zu Fuß schaffen Sie es nicht, die vielen Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Es gibt auch noch andere Städte, die Sie besuchen sollten. Und was Ihre Arusa betrifft, so wird es leichter sein, das Gaballand zu erreichen, als sie hier durch Zufall zu finden.«
»Ich weiß«, antwortete ich bedrückt. »Aber ich habe noch eine Bitte, ich würde gern den Weisen des Landes besuchen.«
»Was soll das?«, fragte er verdutzt. »Das Maschrikland hat seinen Weisen, ebenso das Hairaland. Aber wir haben Wissenschaftszentren, in denen es von Weisen nur so wimmelt. Jeder von ihnen kann Ihnen Ihre Fragen beantworten.«
Ich dankte ihm für das Gespräch und sein freundliches Entgegenkommen. »Es ist Zeit für mich, ich werde gehen.«
Er hielt mich am Arm zurück. »Ach was, wir werden gemeinsam zu Mittag essen.«
Ich nahm die Einladung dankend an, bot sich mir doch damit die Gelegenheit, einen Einblick in das Leben einer hiesigen Familie zu erhalten. Wir gingen etwa eine Viertelstunde zu Fuß, bis wir in eine ruhige Straße kamen, die auf beiden Seiten von Akazienbäumen gesäumt war. Das Haus, in dem der Scheich im zweiten Stock wohnte, machte einen gediegenen Eindruck. Noch viel gelungener war aber die Einrichtung des Salons, und da der Scheich zweifelsohne zur Mittelklasse gehörte, sprach das für den gehobenen Lebensstil im Halbaland.
Gleich beim Betreten der Wohnung sollte ich ein Verhalten kennen lernen, das in meiner islamischen Heimat als höchst unschicklich gegolten hätte: Nicht nur die zwei Söhne begrüßten mich an der Tür, sondern auch seine Frau und seine Tochter. Aber das befremdliche Benehmen ging noch weiter, denn wir setzten uns alle gemeinsam an einen Tisch, und es wurde Wein gereicht. Das war wirklich eine neue Welt mit einem ganz neuen Islam. Die Anwesenheit der Ehefrau und der Tochter brachte mich in Verlegenheit, denn seit ich den Kinderschuhen entwachsen war, hatte ich nie mehr mit einem weiblichen Wesen an einem Tisch gesessen, nicht einmal mit meiner Mutter. Die Situation war mir peinlich, und ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl. Den Wein rührte ich nicht an.
»Jeder machts, wie es ihm gefällt«, sagte der Scheich lächelnd.
»Offenbar halten Sie es mit der Lehrmeinung von Abu Hanifa [8] Abu Hanifa (699-767 u. Z.), Begründer einer der vier Rechtsschulen im Islam, die bei der Urteilsfindung dem eigenen Ermessen, neben anderen gewichtigen Kriterien, Bedeutung beimaß und deshalb als relativ liberal gewertet wird
«, erwiderte ich.
»Das brauche ich nicht, wir bilden uns hier unsere eigene Meinung. Sicher, wir trinken ein Glas Wein, wenn das Wetter oder die Umstände danach sind, aber wir würden uns nie betrinken.«
Seine Frau kümmerte sich ausschließlich um den Haushalt, aber die Tochter, sie hieß Samija, arbeitete in einem großen Krankenhaus als Kinderärztin. Die beiden Söhne steckten noch in der Lehrerausbildung. Dass Mutter und Tochter völlig ungezwungen an der Unterhaltung teilnahmen, brachte mich mehr aus der Fassung als die Nackten im Maschrikland. Sie mischten sich spontan ein, redeten selbstbewusst und taten ihre Meinung kund, ganz so, als säßen Männer mit Männern zusammen. Samija fragte mich zum Beispiel über das Leben der Frauen im Land des Islam aus, und nachdem ich die Situation geschildert hatte, übte sie erbitterte Kritik an den dortigen Verhältnissen. Sie verglich sie mit der Lage der Frau zur Zeit des Propheten, und ihre Rede gipfelte in dem Satz: »Der Islam verkümmert euch unter den Händen, und ihr schaut zu.«
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