»Sie sind es wohl nicht gewöhnt«, fragte er schließlich, »dass man seine Meinung frei äußert?«
»Sicher, aber es gibt bestimmte Grenzen«, erwiderte ich betont ruhig.
»Entschuldigung, aber ich meine, dass man alles immer wieder neu prüfen muss.«
Im Gefühl, mich zur Wehr setzen zu müssen, sagte ich: »Tatsache ist, dass es in diesem Land Arme und lichtscheues Gesindel gibt.«
»Richtig, und zwar deshalb, weil mit der Freiheit nur fähige Menschen umzugehen wissen. Nicht jeder, der im Halbaland lebt, besitzt diese Eignung. Wer mit der Freiheit nicht verantwortlich umgehen kann, für den ist kein Platz hier.«
»Aber ist denn Barmherzigkeit nicht ebenso ein Wert wie Freiheit?«, fragte ich erregt.
»Das behaupten die Gläubigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften auch immer, und genau sie sind es, die das unfähige Pack ermuntern, sich nicht zu ändern. Für mich haben Begriffe wie Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit keinen Sinn, solange man nicht genau festlegt, wer Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit verdient.«
»Da bin ich völlig anderer Meinung!«
»Ich weiß.«
»Womöglich haben Sie auch nichts gegen Krieg?!«
»Wenn er mehr Freiheit bringt, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass das Glück der Menschen im Haira- und im Amanland, wenn wir diese Länder besiegen, dauerhaft gesichert wäre. Wenn wir schon bei diesem Thema sind, will ich Ihnen sagen, dass ich durchaus ein Verfechter des heiligen Krieges im Islam bin.« Er fing an, den Begriff »heiliger Krieg« als Angriffsverhalten auszulegen, wogegen ich auf der Stelle Einspruch erheben wollte. Aber er winkte nur verächtlich ab und ließ mich nicht zu Wort kommen. »Ihr Moslems habt ein großartiges Prinzip«, erklärte er, »aber es fehlt euch der Mut, zu diesem Prinzip zu stehen.«
»Und Sie, weiser Marham? Welcher Religion gehören Sie an?«
»Der Religion, bei der die Vernunft Gott ist und die Freiheit als Prophet verehrt wird.«
»Denken alle Weisen dieses Landes so?«
Er lachte laut auf. »Es wäre schön, wenn ich das behaupten könnte.«
Er brachte mir zwei Bücher. Das Erste trug den Titel »Die Doktrin — das oberste Gesetz im Halbaland«, und der Titel des Zweiten, das er selbst verfasst hatte, lautete: »Die Erstürmung des Unmöglichen«. »Lesen Sie die beiden Bücher«, sagte er, »dann wissen Sie, wie das Halbaland wirklich ist.«
Ich dankte ihm für diese großzügige Geste und den freundlichen Empfang und verabschiedete mich. Das Mittagessen nahm ich im Gasthaus ein; alle Welt redete vom Krieg. Am Nachmittag suchte ich die Moschee auf und verrichtete, dicht hinter Scheich Hamada as-Sabki stehend, das Gebet. Als wir es beendet hatten, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben, was ich gerne tat.
»Haben Sie Arusa entdeckt?«, fragte er mich.
»Es hat keinen Sinn, Arusa länger nachzujagen«, erwiderte ich mit großem Ernst.
»Das ist wohl wahr.« Er schwieg kurz, bevor er wissen wollte, ob ich mit der nächsten Karawane weiterziehen würde.
Ich fühlte mich ein wenig bedrängt, ließ es mir aber nicht anmerken. »Nein, ich möchte noch eine Weile bleiben.«
»Angesichts der augenblicklichen Lage ist das ein sehr vernünftiger Entschluss. Der König des Hairalands hat den Verkehr der Karawanen zwischen Haira und Halba verboten. Es ist seine Antwort auf unsere Weigerung, den flüchtigen Kommandanten auszuliefern.«
Unruhe überkam mich, ich sah ihn erschrocken an.
»Die Großgrundbesitzer und leitenden Männer aus Industrie und Handel sind sehr aufgebracht. Sie haben mit dem Präsidenten ein ernstes Gespräch geführt und ihn aufgefordert, den Krieg zu erklären.«
»Und das Amanland? Wie wird es sich verhalten?«
Er lachte. »Sie sind ja schon ein richtiger Halba-Mann geworden. Wir streiten uns mit dem Amanland um ein paar Wasserquellen in der Wüste, die sich zwischen unseren beiden Ländern erstreckt. Wir werden diesen Konflikt dadurch lösen, und zwar umgehend, indem wir den Interessen des Amanlands entsprechen. Damit ist gesichert, dass es uns nicht in den Rücken fällt.«
Mir war nicht wohl zu Mute. »Ich bin fremd hier, und dieses ständige Gerede von Krieg…«
»Sie bleiben am besten hier. Und sollte der Aufenthalt länger dauern, können Sie Ihr Geld Gewinn bringend anlegen.«
Ich gab den Gedanken auf, mit der nächsten Karawane weiterzuziehen, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es die letzte sein könnte, die ins Amanland aufbrach. Andererseits fühlte ich mich hier im Halbaland gut aufgehoben, denn mir gefielen die klaren, durchschaubaren Verhältnisse, und es gab Menschen, die mich hoffnungsvoll stimmten. Ich verbrachte meine Zeit mit Besichtigungen, oder ich besuchte die Familie von Scheich Hamada. Arusa war zu einem Stern geworden, der am nächtlichen Himmel stand. Das alltägliche Leben war vom Gedanken an Krieg beherrscht. Viele erbitterte es sehr, dass das Amanland, ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen, in den Besitz der Quellen gekommen war. Der Besitzer des Gasthauses erklärte mir mit düsterem Gesicht: »Es ist überhaupt nicht gesagt, dass sich das Amanland, trotz unseres Opfers, nicht auf die andere Seite schlägt.«
Die Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Am schlimmsten waren die wenigen Stunden, die ich allein in meinem Zimmer verbrachte. Alles in mir schrie danach, endlich zur Ruhe zu kommen und ein sesshaftes Leben führen zu können. Als dann schließlich das Halbaland tatsächlich den Krieg erklärte und seine Truppen ins Hairaland schickte, geriet ich in helle Aufregung. Wo sollte ich in diesem alles verheerenden Sturm ein Loch finden, in das ich mich flüchten konnte?
Die Leute redeten nur noch über den Krieg, fortwährend verglichen sie die Truppenstärke und die taktischen Möglichkeiten der beiden Gegner. Ich hingegen war völlig vom Gedanken beherrscht, wie ich mir ein beständiges, ruhiges Leben sichern konnte. Das allein war wichtig, alles andere schob ich weit weg von mir. Ich sah das Ziel vor mir, wollte es unbedingt erreichen, gerade so, als nähme ich an einem Wettlauf teil oder als würde ich gejagt werden. Den Mut dafür gaben mir die Herzlichkeit, die ich bei der Familie des Scheichs fand, und die aufrichtige Freundschaft, die Samija für mich hegte. Sie bewunderte mich, weil ich auf meinen Reisen so viel erlebt hatte, und sie zeigte großes Mitgefühl angesichts all meiner schmerzlichen Erfahrungen. Kurzum, ich sagte mir, dass sie wie geschaffen für mich sei und ich mir das Leben ohne sie nicht mehr vorstellen könne. — Bei der erstbesten Gelegenheit, die sich bot, erklärte ich dem Scheich: »Im Vertrauen auf Gott habe ich mich entschlossen zu heiraten.«
»Haben Sie Arusa denn gefunden?«
»Die Suche nach Arusa habe ich aufgegeben«, erwiderte ich etwas verschämt.
»Haben Sie schon eine Frau gefunden?«
Ich schaute ihn fest an. »Es ist an Ihnen, mir zu helfen.«
Er lächelte ermutigend. »Werden Sie ein reisender oder ein sesshafter Ehemann sein?«
»Um ehrlich zu sein, wird wohl mein Traum nie vergehen…«
»Es hängt alles von ihr ab. Warum sprechen Sie nicht selbst mit ihr?«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie mit ihr reden«, erwiderte ich verlegen.
»Also gut, ich kann Sie verstehen.«
Am nächsten Tag teilte er mir mit, dass Samija einverstanden sei. Nun wollte ich, dass alles möglichst schnell vonstatten ginge, und die Familie unterstützte mich dabei nach Kräften. Ich mietete in der gleichen Straße eine Wohnung, wir richteten sie gemeinsam ein. Den Kriegsbedingungen angemessen, fand die Hochzeit in aller Bescheidenheit statt. Als wir in unserem Heim glücklich vereint waren, wurde mir vor lauter Freude warm ums Herz, und mein Gemüt fand wieder zur alten Ausgeglichenheit zurück. Vom Kriegsschauplatz erreichten uns ermutigende Nachrichten, dennoch kehrte in viele Herzen Trauer ein. Außerdem stiegen die Preise. Scheich Hamada schlug mir vor, Teilhaber eines Geschäfts zu werden, das mit Kunstgegenständen und Schmuck handelte. Ich stimmte begeistert zu. Meine Partner waren zwei Brüder, sie gehörten der christlichen Glaubensgemeinschaft an. Das Geschäft befand sich auf dem Platz beim Gasthaus, und da es viel zu tun gab, blieben wir dort von morgens bis abends. Ich ging mit großem Eifer an die Arbeit, war das doch eine Erfahrung, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machte. Samija versah wie immer ihren Dienst im Krankenhaus. Sie machte mich darauf aufmerksam, dass ich gut daran täte, Halba zu meinem ständigen Aufenthaltsort zu machen. »Deine Reise kannst du ja wie gewünscht fortsetzen, aber zurückkehren solltest du hierher.«
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