Alexandria. Endlich!
Alexandria, ein Tropfen hellen Taus, Speichel weißer Wolken. Die Stadt des Sonnenlichts, von Himmelswasser glänzend rein gewaschen, das Herz von Erinnerungen, voll der Süße des Honigs und der Bitternis von Tränen.
Das riesige, hohe Gebäude sieht dich an wie ein altvertrautes Gesicht, das sich in dein Gedächtnis eingegraben hat und dir gut bekannt ist. Aber es schaut gleichgültig ins Nichts, scheint dich nicht wiederzuerkennen. Düster die Wände, deren Farbe durch die viele Feuchtigkeit abgeblättert ist. Sie blicken auf die von Palmen und Dattelpalmen umsäumte Landzunge, die sich weit hinaus ins Mittelmeer erstreckt bis dahin, wo in der Saison die peitschenden Schüsse der Jagdflinten ertönen. Der starke, erfrischende Wind weht meinen schmalen, gebeugten Körper fast um. Er stößt nicht mehr — wie früher — auf ernsthaften Widerstand.
Mariana, meine liebe Mariana! Ob ich dich wiederfinde in deiner Zufluchtsstätte? Ich vermute, daß du dort bist, hoffe es. Wenn nicht, so sage ich besser mir und meiner Welt ade. Denn es ist nur noch wenig geblieben, und das Leben dreht sich seltsam im Kreis für Augen wie meine, die matt geworden sind und wimpernlos unter den weißen Brauen.
So bin ich endlich wieder bei dir, Alexandria.
Ich drückte den Klingelknopf vor der Wohnung im vierten Stock. Das Guckloch in der Tür wurde aufgeschoben, und ich sah das Gesicht von Mariana. Du hast dich sehr verändert, meine Liebe, und erkennst mich nicht im dunklen Gang. Aber deine klare weiße Haut und dein blondes Haar schimmern im Licht, das durch ein Fenster im Inneren der Wohnung fällt.
»Ist das die Pension Miramar?« [1] Miramar : Fiktive Pension in Mazarita in Alexandria.
»Ja, mein Herr!«
»Ich möchte ein Zimmer.«
Nun wurde mir die Tür geöffnet. Das bronzene Jungfrauenbild empfing mich. Und da war irgendein Duft, der mir doch hin und wieder gefehlt hatte. Wir standen da und sahen uns an. Groß und schlank bist du wie früher, und dein Haar ist blond, und gesund siehst du aus. Aber deine Schultern sind gebeugt, und dein Haar ist sicherlich gefärbt. Die Adern auf deiner Hand und die Fältchen um deine Mundwinkel zeigen mir, daß du alt geworden bist. Du bist jetzt etwa fünfundsechzig, meine Liebe, aber die Schönheit hat dich noch nicht ganz verlassen. Erinnerst du dich denn noch an mich?
Zuerst blicktest du mich mit rein geschäftlichem Interesse an, dann sahst du genauer hin. Die Lider über deinen blauen Augen zuckten. Ja, jetzt erinnerst du dich, und ich gewinne mein verloren geglaubtes Leben zurück.
»Ist das möglich — Sie?«
»Madame!«
Wir schüttelten uns herzlich die Hände. Die Rührung überfiel sie so, daß sie laut auflachte, laut lachte wie die Frauen der Anfuschi. Doch sie fing sich sofort wieder. »Ist denn das die Möglichkeit, Amir Bey, Ustas Amir!« [2] Anfuschi : Bucht im Westen Alexandrias mit Badestrand und Fischereihafen. Bey : Aus der Türkenzeit stammender Ehrentitel. Ustas : »Meister«, »Professor«, Anrede für Künstler und Intellektuelle.
Wir setzten uns auf das schwarze Kanapee unter das Jungfrauenbild, und unsere beiden Schatten zeichneten sich schemenhaft in der Scheibe des Bücherschranks ab, der nur zur Zierde dastand.
Ich schaute mich um und sagte: »Das Entree ist so geblieben, wie es war!«
»Aber nein, es ist schon einige Male renoviert und verändert worden!« protestierte sie und zeigte stolz: »Sehen Sie denn nicht den Kronleuchter und den Wandschirm und dort das Radio?«
»Ich bin ganz einfach glücklich, Mariana, Gott sei Dank sind Sie bei guter Gesundheit!«
»Und Sie hoffentlich auch, Monsieur Amir, toi, toi, toi!«
»Der Dickdarm und die Prostata machen mir zu schaffen, aber trotzdem, ich kann nicht klagen!«
»Sie kommen zur Nachsaison?«
»Nein, ich bin gekommen, um für immer zu bleiben!« sagte ich ernst. »Wann haben wir uns eigentlich zum letzten Mal gesehen?«
»Das war vor… Sagten Sie, um für immer zu bleiben?«
»Ja, meine Liebe! Ich habe Sie das letzte Mal vor etwa zwanzig Jahren gesehen.«
»Und Sie haben sich dieses ganze Leben lang nicht hier blicken lassen!«
»Ich hatte viel zu tun und eine Menge Sorgen.«
»Ich bin sicher, daß Sie in all diesen Jahren immer wieder in Alexandria gewesen sind.«
»Manchmal schon, aber ich hatte sehr viel zu tun. Sie wissen doch, wie es mit den Journalisten ist.«
»Sicher, aber ich kenne auch die Männer und ihre Ausflüchte.«
»Mariana, meine Liebe, Sie sind für mich Alexandria, nur Sie!«
»Natürlich haben Sie geheiratet?«
»Nein, noch nicht.«
»Und wann werden Sie endlich Ihre Absicht in die Tat umsetzen?« fragte sie lachend.
»Ich will weder eine Ehe noch Kinder«, entgegnete ich leicht verstimmt, »ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Dies wird mein Lebensabend, Mariana!«
Sie machte eine ermunternde Handbewegung, so fuhr ich fort: »Und nun zieht es mich wieder nach Alexandria, meiner Geburtsstadt. Da von meinen Verwandten hier niemand mehr lebt, habe ich den einzigen Freund aufgesucht, der mir in meiner Welt noch geblieben ist.«
»Es ist schön, wenn der Mensch einen Freund findet, der seine Einsamkeit teilt!«
»Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten?«
»Sie sind vergangen, wie alles, was schön ist!« sagte sie in theatralischem Ton und murmelte dann vor sich hin: »Aber wir müssen weiterleben.«
Dann kam das Berechnen und Feilschen. Sie betonte, daß die Pension ihre letzte Einnahmequelle sei. So freue sie sich über jeden Gast zur Winterszeit, selbst über die sonst so lästigen Studenten. Um sie ausfindig zu machen, nehme sie Makler und auch Angestellte einiger Hotels zu Hilfe. Sie sagte das mit der stolzen Traurigkeit eines Menschen, dem es früher einmal besserging.
Sie gab mir das Zimmer Nummer 6 auf der dem Meer abgewandten Seite. Wir einigten uns auf eine angemessene Miete für das ganze Jahr außer den Sommermonaten und darauf, daß ich den Sommer über bleiben könne, wenn ich dann dieselbe Miete zahlte wie die übrigen Sommergäste. Wir einigten uns über alles, auch über das obligatorische Frühstück. Madame bewies, daß sie durchaus in der Lage war, im geeigneten Moment ihr Herz von Erinnerungen freizuhalten, um unbelastet rechnen und planen zu können.
Sie fragte nach meinen Koffern, und ich sagte ihr, ich hätte sie bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof gelassen. Lachend meinte sie: »Sie waren sich also nicht sicher, daß es Mariana noch gibt?« und fuhr dann herzlich fort: »Möge es ein Aufenthalt auf Dauer sein!«
Ich schaute auf meine Hände, die mich an die Mumien im Ägyptischen Museum erinnerten.
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Mein Zimmer war nicht schlechter möbliert als die, die zum Meer gelegen waren. Es hatte die gleichen Möbel und bequemen Sessel älteren Stils. So mußten die Bücher in ihrer Kiste bleiben bis auf die wenigen, in denen ich gelegentlich blättern würde. Die hatten Platz auf dem Tisch oder dem Toilettentisch. Störend war nur, daß ständiges Halbdunkel herrschte, denn das Zimmer ging auf einen großen Lichthof, an dessen einer Wand die Dienstbotentreppe nach oben führte und in dem die Katzen miauten und Arbeiter sich laut unterhielten. Ich sah mir die übrigen Zimmer an, das rosa- und das veilchenfarbene und das himmelblaue. Alle standen sie leer. In jedem von ihnen hatte ich früher einen Sommer oder auch länger gewohnt. Und obwohl die alten Spiegel, die kostbaren Teppiche, die silbernen Leuchter und die Kerzenhalter aus Kristall verschwunden waren, ging von den tapezierten Wänden und den hohen Decken mit ihren Stuckengeln ein Hauch verblichener Pracht aus. Sie seufzte, und zum ersten Mal sah ich, daß sie ein Gebiß trug: »Es war einmal eine vornehme Pension!«
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