Traurig warf ich ein: »Das ist gefährlich. So etwas nimmt man im Dorf nicht hin.«
»Sie hat außer ihrem Großvater niemanden als ihre ältere Schwester und deren Mann.«
»Und wenn die herausbekommen, daß sie hier ist?«
»Das ist möglich, aber was macht es schon?«
»Fürchten Sie sich denn nicht?«
»Sie ist schließlich kein Kind mehr. Und ich habe nichts weiter getan, als ihr eine Zuflucht und eine ehrenhafte Arbeit zu bieten.« Dann nachdrücklich: »Monsieur Amir, ich werde sie nicht im Stich lassen!«
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Ich werde meine Aufgaben nicht im Stich lassen, solange Blut in meinen Adern ist, möge die Staatsmacht mit uns tun, was immer sie will.
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Sie unterwies sie, und Zuchra lernte mit überraschender Schnelligkeit. Mariana sagte froh: »Das Mädchen ist erstaunlich, Amir Bey, ganz erstaunlich, klug und stark. Sie begreift sofort, worum es geht. Mein Glück ist perfekt!«
Ein andermal fragte sie mich: »Was meinen Sie, soll ich ihr fünf Pfund geben zusätzlich zu Essen und Kleidung?«
Ich äußerte meine Zustimmung und bat dann: »Stecken Sie sie nicht in moderne Kleider europäischen Zuschnitts!«
»Ja, soll sie sich denn weiterhin anziehen wie ein Fellachenmädchen?«
»Meine Liebe, das Mädchen ist hübsch. Denken Sie darüber nach!«
»Ich halte die Augen schon offen. Das Mädchen ist anständig, Monsieur Amir!«
So tänzelte Zuchra in einem Baumwollkleid durchs Haus, das ihr wie auf den Leib geschnitten war und die Schönheiten ihres Körpers betonte. Das geschah sicher zum ersten Mal, denn bis jetzt war er unter einem weiten, knöchellangen Gilbab [33] Gilbab : Weites, hemdartiges Obergewand.
verborgen gewesen. Ihr Haar war mit Kerosin gewaschen worden und nun hübsch in der Mitte des Kopfes gescheitelt und in zwei dicken Zöpfen zusammengefaßt, die ihr hinter den Ohren hinabhingen.
Tolba Marzuq sah sie prüfend an, wandte sich dann zu mir, als sie gegangen war, und flüsterte mir ins Ohr: »Im nächsten Sommer werden wir sie im Genevoise [34] Genevoise : Fiktives Restaurant und Nachtlokal.
oder im Monte Carlo bewundern können!«
»Das liegt in Gottes, nicht in Ihrer Hand!« wies ich ihn zurecht. Auf dem Weg hinaus ging er an ihr vorbei und fragte sie scherzhaft: »Hast du ausländische Vorfahren, Zuchra?«
Sie maß ihn mit einem fragenden Blick. Es war deutlich, daß sie ihn nicht sympathisch fand.
Dann schaute sie zu mir, und ich versuchte sie zu begütigen: »Er macht nur Spaß, Zuchra. Betrachte seine Worte als eine Art Lob.« Lächelnd fuhr ich fort: »Auch ich gehöre zu deinen Verehrern, Zuchra.«
Sie lächelte unschuldig, und ich zweifelte nicht daran, daß sie mich ebenso mochte wie ich sie, und war sehr froh darüber. Immer, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, lud Madame sie ein, sich zu uns ins Entree zum Radio zu setzen. Sie suchte sich stets einen Platz etwas abseits von uns, in der Nähe des Wandschirms, und verfolgte unsere Gespräche mit dem ernsthaften Wunsch, uns zu verstehen und sich zu bilden. Zu mir gewann sie Zutrauen, weil sie spürte, daß ich sie gern hatte, und wir wurden Freunde. Wir sprachen miteinander, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergab. Eines Abends erzählte sie uns ihre Geschichte selbst, in der Annahme, wir hörten sie zum ersten Mal.
Sie weihte uns auch in Einzelheiten ein: »Der Mann meiner Schwester hätte mich am liebsten umgebracht, weil ich meinen Boden selbst bearbeitete.«
»Hat er dir nicht Schwierigkeiten dabei gemacht, Zuchra?«
»Nein, ich bin Gott sei Dank stark. Weder im Handel noch beim Ackerbau oder bei Marktgeschäften kann mir jemand das Wasser reichen.«
»Aber die Männer kümmern sich auch um andere Dinge«, lachte Tolba Marzuq.
»Wenn es nötig sein sollte, kann ich auftreten wie ein Mann«, setzte sie freundlich dagegen. Ich pflichtete ihr eifrig bei. Madame fügte hinzu: »Zuchra ist nicht unerfahren. Sie hat schließlich ihren Vater auf seinen Gängen begleitet, und er hat sie sehr gern gehabt.«
Zuchra sagte traurig: »Ich habe ihn mehr geliebt als mich selbst. Mein Großvater dagegen denkt nur daran, mich auszunutzen.«
»Wenn du wirklich als ein Mann hättest auftreten können, wärst du nicht zur Flucht gezwungen gewesen«, fuhr Tolba Marzuq fort, sie zu necken.
Ich verteidigte sie: »Tolba Bey, Sie kennen die Atmosphäre auf den Dörfern besser als jeder andere. Sie wissen, daß alles, was die Alten sagen, dort für heilig gehalten wird. Sie wissen um die fürchterlichen Traditionen dort. Entweder sie wäre geblieben, dann hätte sie die Ehefrau eines ungeliebten Mannes werden müssen, oder sie mußte einfach fliehen.«
Sie sah mich dankbar an und sagte dann bekümmert: »Ich habe meinen Grund und Boden verlassen müssen.«
»Sie werden dir allerhand hinterherreden als Begründung für deine Flucht«, meinte da Tolba Marzuq.
Sie wurde blaß vor Zorn, schaute ihn wütend an, spreizte Zeige - und Mittelfinger auseinander und stieß hervor: »Die werde ich dem ins Auge stoßen, der mir Böses nachsagt!«
»Aber Zuchra, verstehst du denn keinen Spaß?« rief Madame.
Mich hatte ihr Zornesausbruch betroffen gemacht, so versuchte auch ich zu begütigen: »Das war doch nur ein Scherz, Zuchra!« Dann wandte ich mich zu ihm und fragte ihn: »Wo bleibt Ihr Feingefühl, mein Lieber?«
»Es wurde sequestriert«, spottete er.
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Sie hatte braune Augen, glatte, rosige Wangen, in ihrem Kinn war ein Grübchen. Fast hätte sie meine kleine Enkelin sein können. Die, die dann ihre Großmutter wäre, stand einen flüchtigen Augenblick lang vor mir. Sie hat weder die Liebe noch die Ehe je erlebt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussah. Bargawan, Darb al-Achmar und das Mausoleum von Sidi Abu s-Su'ud [35] Bargawan : Straße in Altkairo, nahe al-Gamalijja. Darb al-Achtnar : Straße in Altkairo, vom Bab al-Wezir zum Bab Zuwela. Mausoleum von Sidi Abu s-Su'ud : In Fustat, im Süden Kairos, gelegen.
, dem Allheiler, jene Stätten des alten Kairo, sind alles, was mir im Gedächtnis geblieben ist.
»Wie lange werden Sie hierbleiben, Ustas Amir?« Sie hatte mir den Nachmittagskaffee ins Zimmer gebracht, und ich hatte sie gebeten, dazubleiben, damit ich mich mit ihr unterhalten konnte.
»Ich wohne für immer hier, Zuchra.«
»Haben Sie denn keine Familie?«
»Ich habe niemanden auf der Welt außer dir«, scherzte ich.
Sie lachte aus vollem Herzen vor Freude. Ihre Hände waren klein und hart, die Fingerspitzen rauh. Sie hatte große Plattfüße. Aber ihre Figur und ihr Gesicht waren wunderschön.
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Einmal flüsterte sie mir zu: »Er ist unsympathisch.« Ich wollte sie versöhnlich stimmen und sagte: »Er ist ein unglücklicher alter Mann, und außerdem ist er krank.«
»Er denkt, er ist ein Pascha, aber die Zeit der Paschas ist doch schon lange vorbei!«
Ihre Worte berührten mich seltsam, und meine Gedanken durchwanderten den Zauberkreis eines ganzen Jahrhunderts.
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»Sie weigern sich, den Justizminister zu besuchen, weil er nur ein Efendi [36] Efendi : In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Anrede für Personen, die nicht so hochrangig waren, daß sie mit Bey oder Pascha tituliert wurden.
ist…«
»Aber Exzellenz, Männer der Justiz haben ihre Vorstellungen von Würde!«
»Ich bin zuerst einmal ein Fellache, sie jedoch sind Tscherkessen [37] Tscherkessen : Türkische Tscherkessen bildeten seit der Osmanenzeit die Oberschicht, kontrollierten Armee und Regierung.
, das ist der Grund!« Dann, noch entschlossener: »Hören Sie! Diese Leute haben mir lange genug den Pöbel zum Vorwurf gemacht, und ich war ihnen gegenüber stolz darauf, der Anführer der unteren Bevölkerungsschichten zu sein, all derer, die den blauen Gilbab tragen. Hören Sie, der Besuch hat unbedingt stattzufinden, und zwar mit allem Respekt mir gegenüber!«
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