»Was mag ihn wohl, ihn oder andere, veranlaßt haben, sich der Revolution anzuschließen?«
»Sie sprechen so, als gebe es im Land keine Fellachen, keine Arbeiter und keine jungen Leute.«
»Einige hat man ihres Vermögens beraubt. Alle hat man ihrer Freiheit beraubt.«
»Sie pflegen einen antiquierten Freiheitsbegriff«, widersprach ich sarkastisch. »Und selbst den habt ihr während der Zeit eurer Gewaltherrschaft nicht respektiert.«
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Als ich aus dem Bad kam, bemerkte ich im Gang zwei Gestalten. Zuchra und Sarhan al-Buheri flüsterten oder waren doch im vertrauten Gespräch miteinander. Vielleicht wollte er sich tarnen, als er mich sah, denn er sprach plötzlich lauter und über Dinge, die in Zuchras Verantwortungsbereich fielen. Ich ging in mein Zimmer und tat so, als hätte ich nichts gesehen und nichts gehört, aber ein Gefühl der Unruhe hatte mich befallen. Wie konnte Zuchra ihren Seelenfrieden wahren, wo das Haus von jungen Männern wimmelte?
Als sie mir den Nachmittagskaffee brachte, fragte ich sie: »Was machst du eigentlich immer am Sonntagabend, wenn du frei hast?«
»Ich gehe ins Kino.«
»Allein?«
»Mit Madame.«
Liebevoll sagte ich: »Gott beschütze dich.«
»Sie sind besorgt um mich, als wäre ich ein kleines Mädchen«, entgegnete sie lächelnd.
»Das bist du doch auch, Zuchra.«
»Nein, Sie werden feststellen, daß ich in kritischen Zeiten auftreten kann wie ein Mann!«
Ich neigte mich zu ihrem hübschen Gesicht, das ich so gern hatte, und warnte: »Zuchra, diese jungen Männer kennen keine Grenzen, wenn es um ihr Vergnügen geht, aber wenn es ernst wird…« Ich schnipste mit den Fingern.
»Mein Vater hat mich über alles belehrt«, entgegnete sie.
»Ich habe dich wirklich gern und habe Angst um dich.«
»Ich verstehe schon. Seit mein Vater tot ist, war niemand so zu mir wie Sie, und ich habe Sie auch gern.«
Nie zuvor hatte ich gehört, daß diese Worte der Zuneigung mit solch überströmender Zärtlichkeit gesagt wurden. Dabei hätte es durchaus sein können, daß mich Dutzende unschuldiger Kindermünder in gleicher Weise angesprochen hätten, die Münder meiner Kinder und Enkel nämlich, die ich heute hätte, wäre nicht damals in verstockter Dummheit ein Vorwurf gegen mich erhoben worden, eine Beschuldigung, zu der kein Mensch auf dieser Erde das Recht hat.
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Ein weißer Gesichtsschleier, der die Augen frei ließ. Die alte Frau trat aus dem Tor in die Gasse und sagte: »Komm, Mädchen, es hat aufgehört zu regnen.«
Das Mädchen mit dem weißen Schleier folgte ihr, schritt vorsichtig über den schlüpfrigen Boden und wich einer großen Pfütze aus. Von ihrer Schönheit ist mir heute nur noch der Eindruck von damals in Erinnerung geblieben.
Ich trat zur Seite und sagte bei mir: »Lob dem Schöpfer, der solche Schönheit in seiner Gnade erschaffen hat!« In meines Herzens Tiefe erzitternd, faßte ich den Vorsatz: »Ich will mein Vertrauen auf Gott setzen, und je eher, desto besser!«
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Wir waren allein im Entree. Ich saß unter dem Bild der Jungfrau, deren blaue Augen gedankenschwer dreinschauten. Seit den Mittagsstunden hatte es ununterbrochen geregnet, und hin und wieder grollte Donner durch die Wolken.
»Monsieur Amir, es liegt etwas in der Luft«, erklärte Madame. Vorsichtig fragend schaute ich sie an, da fuhr sie mißbilligend fort: »Zuchra!« Dann, nach einer kurzen Pause: »Und Sarhan al-Buheri!«
Mir wurde zwar beklommen zumute, aber ich fragte ganz naiv zurück: »Was meinen Sie damit?«
»Sie wissen sehr wohl, was ich meine!«
»Aber das Mädchen…«
»In solchen Dingen täusche ich mich nicht.«
»Das Mädchen ist anständig und weiß sich richtig zu verhalten, meine liebe Mariana.«
»Wie auch immer sie sein mag, ich habe es nicht gern, wenn sich etwas hinter meinem Rücken tut!«
Zuchra soll also entweder anständig bleiben oder tun, was dir nützt. Ich durchschaue dich, du alte Vettel!
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Ich träume — während meines Nachmittagsschläfchens — von der blutigen Demonstration, nach der die Engländer den Platz vor der Azhar stürmten. Als ich die Augen öffne, dröhnen mir die Stimmen der Demonstranten und die Schüsse durchs Hirn. Nein, das sind andere Stimmen, außerhalb meines Zimmers, die durch die Pension hallen. Ich ziehe mir den Morgenrock an und trete voller Beunruhigung auf den Gang. Alle stehen im Entree. Einige sind lediglich neugierig wie ich. Sarhan al-Buheri aber ist aufgeregt, zornig, rückt seine Krawatte und seinen Hemdenkragen zurecht. Ebenso Zuchra. Blaß vor Zorn steht sie da. Der Kragen ihres Kleides ist zerrissen. Ihre Brust hebt und senkt sich. Husni Allam im Morgenrock setzt gerade eine schreiende und schimpfende fremde Frau vor die Tür, die Sarhan al-Buheri ins Gesicht spuckt, bevor sich die Tür hinter ihr schließt.
Madame ruft: »Das ist doch unmöglich, wir sind eine angesehene Pension!«
»Das geht zu weit!« protestiert sie heftig. Dann leert sich das Entree, und nur wir drei bleiben zurück, sie, ich und Tolba Marzuq. »Was ist denn nur passiert?« frage ich, immer noch schlaftrunken. »Ich habe nicht viel mehr gesehen als Sie«, erwidert Tolba Marzuq. Madame geht in Sarhans Zimmer, offenbar, um zu hören, was geschehen war.
»Unser Freund al-Buheri scheint ein ausgesprochener Don Juan zu sein«, setzt Tolba Marzuq das Gespräch fort. »Was veranlaßt Sie zu dieser Meinung?«
»Haben Sie denn die Frau nicht gesehen, die ihn angespuckt hat?«
»Aber wer war die fremde Frau?«
»Eine Frau, irgendeine Frau!«
»Eine Frau, die ihrem abhanden gekommenen Mann hinterherlief«, fährt er lachend fort.
Dann kommt Zuchra, immer noch aufgeregt, und stößt hervor, ohne daß sie jemand gefragt hat: »Ich habe Ustas Sarhan die Tür geöffnet, da war ihm die Frau auf den Fersen, ohne daß er es merkte, und dann gab es ein heftiges Handgemenge zwischen beiden.«
Madame kehrt zurück, während Zuchra noch dasteht, und erklärt: »Das Mädchen war seine Verlobte, wenn ich es richtig verstanden habe.«
Die Angelegenheit wird nun verständlich, so meine ich, aber Tolba Marzuq fragt boshaft: »Und was hatte Zuchra damit zu tun?«
»Ich wollte zwischen ihnen vermitteln«, entgegnet Zuchra, »und dann geschah, was Sie gesehen haben.«
»Du bist wirklich eine brillante Faustkämpferin!« stellt der Mann fest. »Wollen wir doch die Geschichte als beendet ansehen!« bitte ich.
Im Namen Gottes, des Barmherzigen,
des Erbarmers
Ta-sin-mim
Dies sind die Zeichen
Des offenkundigen Buches.
Vortragen wollen wir dir von der Kunde
Moses und Pharaos, nach der Wahrheit,
Für solche, die da glauben.
Nun, Pharao war gewaltig auf der Erde,
Und er spaltete ihre Bewohner in Gruppen.
Tat dabei Unrecht einer Gruppe von ihnen,
Indem er schlachtet' ihre Söhne
Und beschämt' ihre Frauen.
Ja, er war einer von den Frevlern.
Wir aber wollen Huld erweisen
Den Unterdrückten auf der Erde,
Und sie machen zu Vorständen,
Und sie machen zu Erben. [41] Sure 28 (»Die Erzählung«), Verse 1-6
Ich höre, wie jemand an die Tür klopft. Madame kommt lächelnd herein und setzt sich vor mich auf einen Schemel, auf den ich manchmal meine Beine ausstrecke. Im Lichtschacht heult der Sturm. Ich bin noch im Morgenmantel. Das Zimmer wirkt schläfrig durch sein Halbdunkel, das die wirkliche Tageszeit verbirgt.
Ein Lachen unterdrückend, erklärt sie: »Ich komme mit einer seltsamen Nachricht zu Ihnen.«
»Einer hoffentlich erfreulichen«, murmle ich, schließe den Koran und lege ihn auf die kleine Kommode.
»Zuchra hat beschlossen, sich weiterzubilden.«
Ich schaue sie ausdruckslos an, denn ich verstehe nicht, was sie sagen will.
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