Ich schaute ihn ungläubig an. »Aber das war doch ein Befreiungskrieg?«
»Nun ja, die Kriegsgefangenen werden gesondert behandelt.«
Ich empfand diese Scheinheiligkeit als einen Segen, zeichnete sich doch damit ein Fünkchen Hoffnung ab. Mehr denn je war ich entschlossen zu bleiben. Jeden Tag strich ich aufs Neue auf dem Sklavenmarkt herum, und der Traum, mit Arusa wieder vereinigt zu sein, trieb meine Verzweiflung auf den Höhepunkt.
Eines Abends empfing mich Herr Ham mit einem ermutigenden Lächeln. »Morgen werden die Gefangenen auf dem Markt angeboten.«
Ich schlief schlecht, wachte immer wieder auf. In aller Herrgottsfrühe machte ich mich auf den Weg, ich war der Erste auf dem Markt. Als Arusa aufgerufen wurde, stand für mich fest, dass ich bei der Versteigerung auf keinen Fall aufgeben würde. Zum ersten Mal sah ich sie in einem Kleid, es war grün. Trotz ihrer Traurigkeit sah sie wunderschön aus. Ihr Blick war nach innen gerichtet, auf ihr gebrochenes Selbst. Von dem, was um sie herum vorging, nahm sie nichts wahr, ganz zu schweigen davon, dass sie mich bemerkt hätte. Zum Schluss steigerte nur noch ein Kunde mit, der, wie ich es tuscheln hörte, der Vertreter des weisen Desing sein solle. Bei dreißig Dinar erhielt ich den Zuschlag. Man brachte sie zu mir, und kaum hatte sie mich erkannt, warf sie sich in meine Arme. Sie schluchzte so heftig los, dass uns die Umstehenden anstarrten. Da der Markt nicht der rechte Ort zum Reden war, führte ich sie eiligst fort. Als wir endlich auf der Straße standen, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. »Wie gehts den Kindern, Arusa?«, fragte ich aufgeregt.
Sie war viel zu verstört, um antworten zu können. Also wartete ich ab, bis wir in meinem Zimmer allein waren. Da schloss ich sie inniglich in die Arme, bevor ich sie aufs Sofa setzte, damit sie wieder zu sich kam.
»Es drückt mir das Herz ab, dass du so leiden musstest«, sagte ich.
»Du weißt nicht, was geschehen ist. Du warst nicht dabei«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang sehr seltsam.
»Erzähl mir alles, Arusa, ich werde sonst noch verrückt.«
Die Tränen flössen ihr übers Gesicht. »Was soll ich dir erzählen? Es war entsetzlich. Sie stürmten ins Zelt und töteten ohne jeden Grund meinen Vater. Dann packten sie mich. Wo sind die Kinder? Ich weiß es nicht. Haben sie sie getötet? Irren sie irgendwo herum? Ich bin es, die verrückt werden will.«
Angst überkam mich, ich versuchte dagegen anzukämpfen. »Warum sollten sie Kinder töten? Sie werden irgendwo sein, und wir werden sie schon finden.«
»Das sind wilde Tiere. Warum haben sie uns gequält, obwohl sie unsere Armee längst besiegt hatten? Es sind Wilde. Das alles geschah in der Nacht des Vollmonds, Gott war da. Er hat alles gesehen und gehört, aber nichts getan.«
Um sie ein wenig zu trösten, sagte ich: »Auf jeden Fall sind wir wieder beisammen. Mein Herz sagt mir, dass wir Erbarmen finden werden.«
»Es gibt kein Erbarmen! Ich werde meine Kinder nie wiedersehen!«
»Arusa, Liebste! Das Leben birgt viel Böses in sich, aber es bringt auch viel Gutes.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du wirst sehen. Wir brechen mit der ersten Karawane ins Maschrikland auf und suchen die Kinder.«
»Wann zieht die Karawane los?«
»In zehn Tagen.«
Sie starrte traurig vor sich hin, und mein Herz war von solcher Zärtlichkeit erfüllt, dass es wie eine übermütig sprudelnde Quelle überzulaufen drohte.
Wir verbrachten die lange Zeit des Wartens damit, dass wir durch die Stadt spazierten, ihre Sehenswürdigkeiten betrachteten und uns, unsere Hoffnungen immer wieder heraufbeschwörend, auf die Reise vorbereiteten. Noch ahnte ich nicht, dass Herr Ham mit einer höchst unangenehmen Überraschung auf mich wartete. Eines Tages bat er mich, zu ihm zu kommen. Ich spürte, dass er nur ungern mit der Sprache herausrückte. Er druckste herum, schließlich sagte er: »Ich habe schlechte Nachrichten.«
»Habe ich nicht schon genug davon?«, spottete ich.
Er sah mich fest an. »Der weise Desing will dein Mädchen haben.«
Ich zuckte zusammen. »Ich möchte darum bitten, dass Sie das >Mädchen< als meine Frau betrachten«, erwiderte ich scharf.
»Er wird Ihnen das Geld zurückgeben.«
»Meine Frau ist keine Ware.«
»Desing ist ein mächtiger Mann«, sagte er mit warnendem Unterton. »Er gehört zu denen, die Gott sehr nahe stehen.«
Ich rang um Fassung. »Ich dachte immer, dass fremde Gäste in Ihrem Land sicher sind?«
»Seine Meinung steht fest, daran wird sich auch nichts ändern.«
Ich wusste nicht ein noch aus. Sollte ich Arusa von diesem Gespräch erzählen? Durfte ich ihr, die ohnehin schon schwermütig war, neuen Schmerz zufügen? Den einzigen Traum, der ihr geblieben war, mochte ich nicht zerstören. Ich stellte mir die bange Frage, ob dieser Desing tatsächlich genug Einfluss hatte, um mir Arusa zu entreißen. Der Kammerherr des Sultans fiel mir ein, der mir Halima weggenommen hatte. Ich kam nicht zur Ruhe, konnte mich zu keinem Entschluss durchringen. Ständig hatte ich in den nächsten Tagen das Gefühl, dass etwas Bedrohliches auf mich zukam. Dass mein Glück auf keinen festen Boden begründet war. Dass es keine Flügel hatte.
Vier Tage vor der Abreise bat mich ein Diener, zu Herrn Ham zu kommen. In seinem Zimmer fand ich einen Offizier vor, der mir, nachdem Herr Ham mich ihm vorgestellt hatte, erklärte, dass er für mich eine Vorladung zum Polizeipräsidenten habe. Auf meine Frage, worum es sich handle, behauptete er, es nicht zu wissen. Ich müsse erst noch meine Frau verständigen, sagte ich, aber der Offizier winkte ab. Das würde Herr Ham für mich erledigen.
Wir gingen in die Königsstraße, wo sich das Polizeipräsidium befand. Ich wurde in den Raum des Präsidenten geführt. Er saß zwischen zwei Adjutanten auf einem Sofa. Der Blick, den er mir zuwarf, machte mir das Herz nicht gerade leichter.
»Sind Sie Kindil Mohammed al-Innabi, der sich hier als Reisender aufhält?«
Ich nickte.
»Sie werden beschuldigt, sich über die Religion des Landes lustig gemacht zu haben, dessen Gastrecht Sie genießen.«
»Diese Beschuldigung entbehrt jeglicher Grundlage«, erklärte ich mit fester Stimme.
»Es gibt Zeugen«, erwiderte er eisig.
»Niemand, der auch nur über ein Mindestmaß von Gewissen verfügt, kann so etwas behaupten!«, rief ich empört.
»Verleumden Sie nicht ehrenwerte Menschen, überlassen Sie es dem Richter, ein Urteil zu fällen.«
Ich wurde verhaftet. Am nächsten Morgen kam ich vor Gericht, wo man die Anklage verlas. Ich erklärte, unschuldig zu sein, aber da wurden die Zeugen aufgerufen. Es waren fünf, und der Erste, der den Saal betrat, war Herr Ham. Nachdem sie den Eid abgelegt hatten, machten sie ihre Aussage; es hörte sich an, als hätten sie sie auswendig gelernt. Das Gericht verurteilte mich zu lebenslanger Haft, mein Hab und Gut wurde beschlagnahmt. Arusa wurde in Gewahrsam genommen. Das alles war von einem Tag auf den anderen geschehen. Ich kostete bitterste Verzweiflung, musste begreifen, dass dieser Albtraum Wirklichkeit war und keine Abenteuergeschichte. Arusa war verloren, die Abreise vereitelt, und der schöne Traum vom Gaballand hatte sich in nichts aufgelöst. Ich selbst, mein ganzes Leben, waren für null und nichtig erklärt worden.
Das Gefängnis befand sich außerhalb der Stadt in einer Wüstengegend. Es bestand aus einem weitläufigen System von Gräben und Höhlen unter der Erde. Große Steinquader dienten als Wände, der Boden war Sand, und für die Luftzufuhr sorgten enge Schächte. Jeder Häftling erhielt eine Hose und ein Fell, mehr nicht. Die Luft war zum Ersticken, es roch modrig. Das ständige Zwielicht gab einem das Gefühl, als würde die Sonne nie aufgehen und der Morgen ewig vor sich hindämmern. Ich schaute mich benommen um und murmelte: »Hier werde ich also den Rest meines Lebens verbringen.« Die anderen Gefangenen starrten mich neugierig an und wollten wissen, was ich verbrochen hätte. Sie fragten, ich fragte, und schließlich verstand ich, dass die politischen Verhältnisse uns hier zusammengebracht hatten. Das tröstete mich in gewisser Weise, falls das in meiner Lage überhaupt möglich war. Es waren allesamt freidenkerische Männer, denen die sittlich verkommenen Verhältnisse zum Verhängnis geworden waren. Nachdem sie sich meine Geschichte angehört hatten, sagte einer: »Jetzt sogar Fremde…«
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