Offenbar hatte sich die Geschichte herumgesprochen, obwohl nur wir davon wussten. Zeigte ich mich auf der Straße, trafen mich empörte Blicke. Das Gebäude droht einzustürzen, dachte ich voll Furcht.
Meine Vermutung sollte sich als richtig erweisen. Fam kam zu mir und bat mich, ihn in sein Zimmer zu begleiten. Ein Offizier wartete auf mich. »Sind Sie Kindil Mohammed al-Innabi?«
Der Mund wurde mir trocken. »So ist es.«
»Es hat sich herausgestellt, dass Sie Ihren ältesten Sohn zur Gottlosigkeit erziehen.«
Beklommenen Herzens fragte ich: »Wer behauptet das?«
»Wir kennen unsere Pflichten und wissen, was zu tun ist. Ich bin nicht hier, um mit Ihnen herumzustreiten. Unser Gebieter hat befohlen, dass Sie sich von Ihrer Gefährtin und den Kindern zu entfernen haben. Sie werden das Land mit der nächsten Karawane verlassen.«
Ich wollte etwas sagen, aber da schnauzte er mich an: »Schluss, kein Wort! Sie stehen unter meiner Aufsicht, bis die Frau mit ihren Kindern zum Vater gezogen ist. Bis zur Abreise der Karawane haben Sie Hausarrest.«
»Bitte, lassen Sie mich wenigstens von meiner Familie Abschied nehmen«, flehte ich.
»Seien Sie dankbar, dass Sie keine schlimmere Strafe getroffen hat«, fuhr er mich barsch an.
Eine Stunde später durfte ich in meine Kammer gehen, mein Gefängnis. Nichts war mehr da — keine Arusa, keine Kinder, keine Liebe, keine Hoffnung. Schwermut überkam mich, hatte mich doch das Leben jeglichen Traums, jeglicher trügerischen Hoffnung beraubt. Fam, der mich begleitet hatte, sah mich voller Mitgefühl an. »Trag dein Schicksal mit der Würde, die eines Reisenden geziemt.«
»Ich bin sehr, sehr traurig, Fam«, sagte ich mit bebender Stimme.
Er schaute mich lange an, dann murmelte er: »Lass deinen Tränen ihren Lauf, auch Männer weinen manchmal.«
Bemüht, nicht laut loszuschluchzen, seufzte ich: »Verflogen sind die Freuden des Lebens…«
»Es wird neue Freuden geben, bei denen du Trost findest.« Er legte mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort: »Du solltest wissen, dass man sich als Reisender besser auf keine festen Beziehungen einlässt.«
Noch vor Morgengrauen brach die Karawane auf. Mein Herz sehnte sich zurück, und meine Kehle war vor Trauer und Tränen wie zugeschnürt. Sterne übersäten den Himmel; sie schauten auf uns herab, und wir starrten zu ihnen empor. Nirgendwo zeigte sich auch nur die kleinste Spur von Trost. Da hatte ich vor fünf Jahren wegen des Verrats von Mutter, Geliebten und Herrschenden die Heimat verlassen, und nun brach ich wieder auf, um ferne Lande zu erkunden. Aber wo blieb das Herz? Wo der Verstand? Die Sterne schienen mir in greifbarer Nähe zu sein, Arusa und die Kinder hingegen unendlich fern. Karawanen über Karawanen ziehen mit Reichtümern und Hoffnungen ihrer Wege, welche aber trägt den Schmerz mit sich fort?
Die Dunkelheit wich, Licht brach herein, und eine schier endlose Wüste erstreckte sich vor uns, unermesslich wie das Entschwinden ins Nichts. Was würde man wohl zu Hause über mich reden? Warum war ich Al-Kani Ibn Hamdis nicht noch einmal begegnet? Sei es, wie es sei, sagte ich mir, das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, genau hinzusehen und zuzuhören und alles zu notieren. Lass dich nicht auf unliebsame Erfahrungen ein, kehr zurück zu deinen Träumen vom Gaballand, bring deiner Heimat die Mittel, die seine Wunden heilen können.
Die Entfernung zwischen Maschrik und Haira legten wir in vier Wochen zurück. In der Nähe der Zamam-Oase machten wir bis zum Abend eine Rast. In der Dämmerung gingen wir weiter und erreichten gegen Mitternacht die Stadtmauer von Haira. Im funkelnden Licht der Sterne rückten wir auf das große Tor zu. Von Fackeln erleuchtet, zeichnete sich der Umriss eines Mannes ab, der, bekleidet mit Helm, Brustpanzer und kurzem Lendenschurz, offenbar der für den Zoll zuständige Kommandant war. Mit donnernder Stimme erklärte er: »Willkommen in Haira, der Hauptstadt des Hairalands! Ihr werdet überall Polizisten antreffen, die ihr nach allem, was euch interessiert, fragen könnt. Um unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, solltet ihr euch an die polizeilichen Anweisungen genauestens halten.«
Begrüßung und Warnung in einem, dachte ich. Das Tor öffnete sich, wir betraten die Stadt. Die Kaufleute zogen in Richtung des Markts, weil sich dort ihre Unterkunft befand; mich geleitete ein Führer zu einem Gasthaus für fremde Reisende. Hier und da erhellten Fackeln die Finsternis. Auch der Eingang des Gasthauses wurde von Fackeln erleuchtet. Ich stand vor einem großen, eingeschossigen Ziegelsteingebäude, und hinter einigen Fenstern brannte Licht. Ein Diener übernahm mein Gepäck, ich eilte ihm nach. In meinem Zimmer angekommen, sah ich mich um: In dem Raum, er war von mittlerer Größe, gab es ein kleines Sofa, einen Kleiderschrank und ein Bett, dessen Liegefläche sich ungefähr eine Elle hoch über dem Boden erhob. Die purpurfarbene Schlafdecke war genau das Richtige für die milden Herbsttemperaturen. Auf dem Boden lag ein fein gewebter Teppich, und ein Leuchter mit einer dicken Kerze spendete Licht. Zweifelsohne gab es hier eine gewisse Kultur, der Unterschied zum Maschrikland war jedenfalls gewaltig. Kaum hatte ich meine Reisekleidung abgelegt und das Nachthemd angezogen, da stolzierte, bekleidet mit einer leichten Abaja, ein mittelgroßer, dunkelhäutiger Mann herein; meiner Meinung nach musste er so an die fünfzig Jahre alt sein.
»Mein Name ist Ham, ich bin der Besitzer des Gasthauses.«
Ich reichte ihm die Hand und stellte mich vor. »Möchten Sie zu Abend essen?« »Nein, danke, ich habe unterwegs gegessen.« Er lächelte mich freundlich an. »Pro Nacht kosten Zimmer und Verpflegung einen Dinar, es wird im Voraus bezahlt.«
Ich hielt zehn Tage für eine angemessene Zeit, also gab ich ihm zehn Dinar.
»Aus welchem Land kommen Sie?«
»Aus dem Land des Islam.«
»Hier in Haira«, sagte er mit warnendem Unterton, »existiert nur der Haira-Glaube.«
Dies weckte Erinnerungen an die Tragödie, die ich in Maschrik erlebt hatte. »Und worauf begründet sich dieser Glauben, verehrter Herr Ham?«, fragte ich vorsichtig.
»Auf unseren König, er ist unser Gott.« Er grüßte kurz und verschwand.
Ich löschte die Kerze und legte mich ins Bett. Erst der Mond, jetzt ein König, dachte ich, wie kann man bloß derart in die Irre gehen! Langsam, mein Freund, verhält sich der Sultan in deinem Land nicht auch wie ein Gott? Hör besser auf nachzudenken, und genieße nach den Strapazen der Reise die Ruhe. Flüchte dich vor den Sorgen des Lebens in den Schlaf.
Viel zu früh wachte ich wieder auf. Von der Straße drang gewaltiger Lärm in mein Zimmer, und da war mir klar, dass mir das den Schlaf geraubt hatte. Ich öffnete das Fenster und erblickte im Licht des noch jungfräulichen Morgens eine riesige Truppe von Soldaten, die teils auf Pferden ritten, teils zu Fuß marschierten. Im dröhnenden Takt der Trommeln zogen sie in Richtung des großen Stadttors ab. Verwundert schaute ich dem Treiben zu. Was mochte der Grund für den Aufmarsch sein? Als die Straße wieder frei war, bestellte ich das Frühstück. Auf dem Messingtablett, das ein Diener hereintrug, gab es Milch, Butter, Käse, Brot und Weintrauben. Ich war versucht, ihn zu fragen, was es mit den Soldaten auf sich habe, aber die Vorsicht hielt mich zurück. Nach dem Frühstück machte ich mich fertig zum Ausgehen, aber ich kam nur bis zur Tür. Vor dem Ausgang gab es einen großen Auflauf, die Menschen redeten heftig aufeinander ein.
»Das ist der Krieg, viele haben damit gerechnet…« »Es geht los, gegen das Maschrikland…« »Um das Volk von den fünf Tyrannen zu befreien!« »Auf dass auch dort unter der Herrschaft eines gerechten Gottes eine neue Zeit anbrechen kann!«
Mir wurde beklommen zu Mute, und meine Gedanken kreisten um Arusa und die Kinder. Was würde aus ihnen werden? Welches Schicksal erwartete sie? O nein, dieser Krieg wurde nicht geführt, um das Maschrikvolk zu befreien, sondern es ging einzig und allein um das Weideland und die Schätze der fünf Gebieter. Mit roher Gewalt würden die Menschen gezwungen werden, nicht mehr den Mond, sondern den neuen Herrscher anzubeten. Es würde Tote geben, vielen Menschen würden Schmach und Schande angetan werden, Tausende würden alle Habe verlieren und herumvagabundieren müssen. Aber geschieht das nicht auch in Kriegen, die Menschen, die den gleichen Glauben haben, um der brüderlichen Vereinigung willen führen?
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