Als er am Freitagmorgen zum Unterricht kam, erwartete ihn am Eingangstor Pater Romanones.
»Ich habe mit dir zu reden, Julián.«
»Wie Sie wünschen, Pater.«
»Ich habe immer gewußt, daß dieser Tag kommen würde, und ich muß dir gestehen, daß ich mich freue, daß ich es bin, der dir die Nachricht überbringt.«
»Welche Nachricht denn, Pater?« Julián Carax war nicht mehr Schüler der San-GabrielSchule. Seine Anwesenheit auf dem Areal, in den Klassenzimmern und selbst in den Gärten war ihm strikt untersagt. Seine Gerätschaften, Schulbücher und sämtlichen andern Habseligkeiten gingen in den Besitz der Schule über.
»Der Terminus technicus lautet blitzartige Relegation«, sagte Pater Romanones zusammenfassend.
»Darf ich den Grund erfahren?«
»Es kommen mir ein Dutzend Gründe in den Sinn, aber ich bin sicher, du wirst den passendsten aussuchen. Guten Tag, Carax. Viel Glück im Leben. Du wirst es brauchen.« In dreißig Meter Entfernung, im Hof mit den Brunnen, beobachtete ihn eine Gruppe Schüler. Einige lachten und winkten auf Wiedersehen. Andere schauten ihn erstaunt und mitleidig an. Nur einer lächelte traurig: sein Freund Miquel Moliner, der bloß nickte und unhörbar einige Worte murmelte, die Julián in der Luft zu lesen meinte:
»Bis Sonntag.« Auf dem Heimweg in die Ronda de San Antonio sah Julián Don Ricardo Aldayas Mercedes vor dem Hutladen parken. Er blieb an der Ecke stehen und wartete. Kurz danach trat Don Ricardo aus dem Laden seines Vaters und stieg in den Wagen. Julián versteckte sich in einem Eingang, bis der Mercedes Richtung Plaza de la Universidad verschwunden war. Erst jetzt stürmte er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Dort erwartete ihn weinend seine Mutter Sophie.
»Was hast du getan, Julián?« flüsterte sie ohne Zorn.
»Verzeihen Sie, Mutter…« Sophie umarmte ihn fest. Sie hatte abgenommen und war gealtert, als hätten ihr alle gemeinsam das Leben und die Jugend gestohlen.
»Hör mir gut zu, Julián. Dein Vater und Don Ricardo Aldaya haben alles eingefädelt, um dich in ein paar Tagen in die Armee zu schicken. Aldaya hat Beziehungen… Du mußt gehen, Julián. Du mußt irgendwohin, wo dich keiner der beiden finden kann…« Julián glaubte im Blick seiner Mutter einen Schatten zu sehen, der sie innerlich aufzehrte.
»Ist noch was, Mutter? Etwas, was Sie mir nicht gesagt haben?« Sophie schaute ihn mit zitternden Lippen an.
»Du mußt gehen. Wir müssen beide für immer von hier weg.« Julián umarmte sie kräftig und flüsterte ihr ins Ohr:
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Mutter. Machen Sie sich keine Sorgen.« Den Samstag verbrachte er zurückgezogen in seinem Zimmer zwischen seinen Büchern und den Zeichenheften. Der Hutmacher war noch im Morgengrauen in den Laden hinuntergegangen und kam erst nach Mitternacht wieder herauf. Er hat nicht einmal die Stirn, es mir ins Gesicht zu sagen, dachte Julián. An diesem Abend verabschiedete er sich mit Tränen in den Augen von den Jahren, die er in diesem düsteren, kalten Zimmer verbracht hatte, in Träumen verloren, von denen er jetzt wußte, daß sie sich nie erfüllen würden. Mit nur einer Tasche und ein wenig Wäsche und einigen Büchern versehen, küßte er am frühen Sonntagmorgen seine Mutter, die im Eßzimmer unter einigen Decken zusammengekauert schlief, auf die Stirn und ging. Über den Straßen lag bläulicher Dunst, und auf den Dächern der Altstadt zeigten sich Kupferfunken. Er schritt langsam, verabschiedete sich von jedem Eingang, von jeder Straßenecke und fragte sich dabei, ob es wohl stimmte, daß die Zeit schwindelte und er eines Tages fähig wäre, sich nur an das Gute zu erinnern und die Einsamkeit zu vergessen, die ihn in diesen Straßen so oft verfolgt hatte.Die Estación de Francia war menschenleer; die Bahnsteige glänzten im Morgenlicht und verloren sich dann im Nebel. Julián setzte sich auf eine Bank unter dem Gewölbe und zog ein Buch hervor. Schon bald ließ er die Stunden verstreichen und wechselte Haut und Namen, bis er sich als ein anderer fühlte. Er ließ sich von den Träumen schattenhafter Figuren mitreißen und dachte, es bleibe ihm keine weitere Zuflucht außer dieser. Mittlerweile war ihm klar, daß Penélope nicht käme, daß er den Zug einzig in Begleitung seiner Erinnerung besteigen würde. Als pünktlich am Mittag Miquel Moliner im Bahnhof auftauchte und ihm seine Fahrkarte und das ganze Geld gab, das er hatte auftreiben können, umarmten sich die beiden Freunde schweigend. Julián hatte Miquel Moliner noch nie weinen sehen. Die Uhr zählte die entfliehenden Minuten und bedrängte sie.
»Es ist noch Zeit«, murmelte Miquel und beobachtete den Eingang.Um ein Uhr fünf rief der Bahnhofsvorsteher zum letzten Mal die Fahrgäste nach Paris auf. Der Zug begann schon den Bahnsteig entlangzugleiten, als sich Julián seinem Freund zuwandte, um sich zu verabschieden. Miquel Moliner schaute ihn von draußen an, die Hände in den Taschen vergraben.
»Schreib«, sagte er.
»Sobald ich dort bin, schreibe ich dir.«
»Nein, nicht mir. Schreibe Bücher, nicht Briefe. Schreib sie für mich, für Penélope.« Julián nickte und merkte erst jetzt, wie sehr er seinen Freund vermissen würde.
»Und bewahr dir deine Träume«, sagte Miquel.
»Du kannst nie wissen, wann du sie brauchst.«
»Immer«, murmelte Julián, doch das Fauchen des Zuges hatte ihnen die Worte schon genommen.
»Penélope erzählte mir«, fuhr Jacinta fort, »was an dem Abend geschah, an dem Señora Aldaya die beiden in meinem Zimmer ertappt hatte. Am nächsten Tag bestellte mich die Señora zu sich und fragte mich, was ich von Julián wisse. Ich sagte, nichts, er sei ein guter Junge, ein Freund von Jorge… Ich mußte Penélope in ihrem Zimmer einschließen, bis sie ihr erlauben würde, es zu verlassen. Don Ricardo war nach Madrid gefahren und sollte erst am Freitag zurückkommen. Kaum war er da, erzählte ihm die Señora, was vorgefallen war. Ich war dabei. Don Ricardo schoß von seinem Sessel auf und verpaßte der Señora eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Dann schrie er wie ein Wahnsinniger, sie solle wiederholen, was sie gesagt hatte. Die Señora war vollkommen verschüchtert. Noch nie hatten wir den Señor so gesehen. Nie. Es war, als wäre er von allen Teufeln besessen. Puterrot vor Zorn ging er in Penélopes Zimmer hinauf und zerrte sie an den Haaren aus dem Bett. Ich wollte ihn zurückhalten, doch er stieß mich mit Fußtritten weg. Noch in derselben Nacht ließ er den Familienarzt kommen, damit er sie untersuchte. Als der Arzt fertig war, sprach er mit dem Señor. Penélope wurde in ihrem Zimmer eingeschlossen, und die Señora sagte, ich solle mein Bündel schnüren.
Man ließ mich nicht zu Penélope, nicht einmal, um mich von ihr zu verabschieden. Don Ricardo drohte, mich bei der Polizei anzuzeigen, sollte ich jemandem etwas von dem Vorgefallenen erzählen. Noch in der Nacht wurde ich hinausgeworfen, ohne daß ich wußte, wohin ich gehen sollte, nach achtzehn Jahren ununterbrochenen Dienstes im Haus. Zwei Tage später kam mich in einer Pension in der Calle Muntaner Miquel Moliner besuchen und sagte, Julián sei nach Paris gefahren. Ich sollte ihm erzählen, was mit Penélope geschehen war, und herausfinden, warum sie nicht zum Bahnhof gekommen sei. Wochenlang ging ich immer wieder zu dem Haus und bat, Penélope besuchen zu dürfen, doch man ließ mich nicht einmal zum Tor hinein. Manchmal stellte ich mich ganze Tage an die Ecke gegenüber, in der Hoffnung, sie herauskommen zu sehen. Ich habe sie nie gesehen. Sie ging nicht aus dem Haus. Später rief Señor Aldaya die Polizei, und mit Hilfe seiner Freunde im Rathaus ließ er mich ins Irrenhaus Horta einweisen, indem er anführte, niemand kenne mich und ich sei eine Verrückte, die seiner Familie nachstelle. Zwei Jahre war ich wie ein Tier dort eingesperrt. Als ich herauskam, ging ich als erstes zum Haus in der Avenida del Tibidabo, um Penélope zu sehen.«
Читать дальше