»Und, haben Sie sie gesehen?« fragte Fermín.
»Das Haus war verriegelt und zum Verkauf ausgeschrieben. Es lebte keiner mehr dort. Man sagte mir, die Aldayas seien nach Argentinien ausgewandert. Ich habe an die mir angegebene Adresse geschrieben, aber die Briefe sind ungeöffnet zurückgekommen…«
»Was ist aus Penélope geworden? Wissen Sie das?« Jacinta schüttelte den Kopf und sank in den Stuhl zurück.
»Ich habe sie nie wiedergesehen.«
Sie wimmerte und heulte Rotz und Wasser. Fermín nahm sie in die Arme und wiegte sie. Jacinta Coronados Körper war auf die Größe eines kleinen Mädchens geschrumpft, so daß Fermín neben ihr als Riese erschien. Tausend Fragen brodelten in meinem Kopf, aber mein Freund bedeutete mir unmißverständlich, das Gespräch sei zu Ende. Ich sah, wie er das schmutzige, kalte Loch betrachtete, in dem Jacinta Coronado ihre letzten Stunden verlebte.
»Los, Daniel. Wir brechen auf. Gehen Sie schon mal vor.«
Während ich mich entfernte, wandte ich mich einen Augenblick um und sah, daß Fermín vor der Greisin niederkniete und sie auf die Stirn küßte. Sie lächelte zahnlos.
»Sagen Sie, Jacinta«, hörte ich ihn sagen, »Sie mögen doch Lutschbonbons, nicht wahr?«
Auf unserem Irrweg zum Ausgang begegneten wir dem echten Vertreter des Bestattungsamtes und zwei affenhaft aussehenden Gehilfen, die mit einem Pinienholzsarg, Schnur und mehreren alten Laken zweifelhafter Anwendung daherkamen. Die drei verströmten einen unseligen Geruch nach Formol und billigstem Kölnisch Wasser, hatten eine durchscheinende Hautfarbe und zeigten ein lendenlahmes Lächeln. Fermín deutete bloß auf die Zelle, wo der Verstorbene harrte, und segnete das Trio, das mit zustimmendem Nicken antwortete und sich respektvoll bekreuzigte.
»Gehet hin in Frieden«, murmelte Fermín und zog mich zum Ausgang, wo uns eine Nonne mit einer Ölfunzel und vorwurfsvollem Leichenblick verabschiedete.
Als wir draußen waren, erschien mir der triste Hohlweg aus Stein und Schatten, der die Calle Montcada war, geradezu als Tal des Glanzes und der Hoffnung. Fermín neben mir atmete tief und erleichtert auf. Die Geschichte, die uns Jacinta erzählt hatte, lastete in unserem Bewußtsein schwerer, als wir uns eingestehen mochten.
»Hören Sie, Daniel, wie wäre es, wenn wir uns im Xampanyet da vorn einige Schinkenkroketten und ein paar Gläschen Sekt zu Gemüte führten?«
»Da hätte ich ehrlich nichts dagegen.«
»Sind Sie denn heute nicht mit Ihrem Mädchen verabredet?«
»Morgen.«
»Ah, Sie Schelm. Sie lassen sich bitten, was? Wie lernfähig wir doch sind…«
Wir hatten noch keine zehn Schritte in Richtung der lauten Schenke ein paar Häuser weiter unten getan, als sich drei geisterhafte Gestalten aus dem Schatten lösten und auf uns zukamen. Zwei von ihnen postierten sich hinter uns, so nahe, daß ich ihren Atem im Nacken spüren konnte. Der dritte, kleiner, aber unendlich viel unheimlicher, verstellte uns den Weg. Er trug den gleichen Mantel, und sein öliges Grinsen schien ihm vor Vergnügen aus den Mundwinkeln zu quellen.
»Na, da schau her, wen haben wir denn da? Das ist doch mein alter Freund, der Mann mit den tausend Gesichtern«, sagte Inspektor Fumero.
Angesichts dieser Erscheinung gerann Fermíns Geschwätzigkeit zu einem erstickten Ächzen. Inzwischen hatten uns die beiden Kerle schon am Nacken und am rechten Handgelenk gepackt, um uns jederzeit beim geringsten Anzeichen einer Bewegung den Arm umdrehen zu können.
»Deinem überraschten Gesicht sehe ich an, daß du gedacht hast, ich hätte deine Spur längst verloren, was? Du hast doch wohl nicht angenommen, ein Stück dürre Scheiße wie du kommt so mir nichts, dir nichts aus der Gosse raus und kann als ehrbarer Bürger auftreten, oder? Du bist zwar verrückt, aber so sehr auch wieder nicht. Außerdem höre ich, daß du deine Nase, die in deinem Fall aus vielen Nasen besteht, in einen Haufen Dinge steckst, die dich einen feuchten Staub angehen. Schlechtes Zeichen… Was hast du da mit den Nönnchen für eine Mauschelei? Vernaschst du etwa eine von ihnen? Was nehmen die denn heute so?«
»Ich respektiere fremde Hintern, Herr Inspektor, vor allem, wenn sie in Klausur leben. Wenn Sie sich befleißigten, dasselbe zu tun, könnten Sie vielleicht eine Stange Geld für Penicillin sparen und hätten zudem einen besseren Stuhlgang.«
Fumero grinste wütend.
»So gefällt’s mir. Schneidig wie ein Kastriermesser. Ich sag’s ja. Wenn alle Gauner wären wie du, dann wäre meine Arbeit ein wahres Fest. Sag mal, wie nennst du dich denn jetzt, du kleiner Scheißer? Gary Cooper? Na los, erzähl mir, wozu du deinen Zinken ins Altenheim Santa Lucía steckst, und dann lass ich dich vielleicht mit ein paar blauen Flecken wieder laufen. Komm, schieß los. Was hat euch hergeführt?«
»Eine Privatangelegenheit. Wir haben eine Angehörige besucht.«
»Ja, deine verdammte Mutter. Paß auf, heute bin ich gut aufgelegt, sonst würd ich dich jetzt aufs Revier mitnehmen und noch mal mit dem Lötkolben behandeln. Na komm, sei ein guter Junge und erzähl dem lieben Inspektor Fumero ehrlich, was ihr verdammt noch mal hier treibt, du und dein Freund. Sei ein bißchen hilfsbereit, zum Teufel, so ersparst du’s mir, diesem verwöhnten Bürschchen da, das du dir als Mäzen angelacht hast, ein neues Gesicht zu verpassen.«
»Wenn Sie ihm auch nur ein Härchen krümmen, dann schwör ich Ihnen, daß…«
»Du jagst mir ja richtig Angst ein, ehrlich. Da hab ich mir doch glatt in die Hosen gemacht.« Fermín schluckte und schien allen Mut zusammenzukratzen, der ihm noch nicht aus den Poren geströmt war.
»Etwa in das Matrosenhöschen, das Ihnen Ihre ehrwürdige Frau Mutter angezogen hat, die illustre Putze? Wäre zu schade, wo man mir doch erzählt, daß Ihnen das hübsche Modell so fabelhaft gestanden hat.« Inspektor Fumero wurde blaß, und sein Blick verlor jeden Ausdruck.
»Was hast du da gesagt, du Schwein?«
»Ich habe gesagt, daß Sie offensichtlich den Geschmack und die Grazie von Doña Yvonne Sotoceballos geerbt haben, Dame der feinen Gesellschaft…« Der erste Faustschlag genügte, um den schmächtigen Fermín zu Boden zu werfen. Er lag noch zusammengestaucht in der Pfütze, als Fumero ihm Fußtritte in Magen, Nieren und Gesicht zu verpassen begann. Vom fünften an zählte ich nicht mehr weiter. Fermín ging die Luft aus, und einen Augenblick später konnte er keinen Finger mehr rühren, um sich vor den Schlägen zu schützen. Die beiden Polizisten hielten mich mit eiserner Hand fest und lachten aus Höflichkeit oder Verpflichtung.
»Halt du dich da raus«, flüsterte mir der eine zu.
»Ich habe keine Lust, dir den Arm zu brechen.« Ich versuchte mich vergeblich aus ihrem Griff zu lösen, und bei diesem Gerangel erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht. Ich erkannte ihn sogleich. Es war der Mann mit dem Mantel und der Zeitung aus der Kneipe an der Plaza de Sarriá vor einigen Tagen, derselbe, der uns im Bus gefolgt war und über Fermíns Witze gelacht hatte.
»Weißt du, was mir in der Welt am meisten auf den Keks geht, sind Leute, die in der Scheiße und der Vergangenheit rumwühlen«, rief Fumero und ging um Fermín herum.
»Was vergangen ist, ist vergangen, verstehst du? Und das gilt für dich genauso wie für diesen Dämlack da, deinen Freund. Und du, Junge, paß gut auf und lerne — du bist als nächster dran.« Ich schaute zu, wie Inspektor Fumero unter dem Licht einer Straßenlampe Fermín mit Fußtritten fertigmachte. Die ganze Zeit über brachte ich den Mund nicht auf. Ich erinnere mich an das dumpfe Geräusch, mit dem die Schläge erbarmungslos auf meinen Freund prasselten. Sie tun mir noch heute weh. Ich konnte nicht anders, als mich, zitternd und feige Tränen vergießend, in den willkommenen Griff der Polizisten zu flüchten.Als Fumero es satt hatte, ein totes Gewicht zu malträtieren, knöpfte er den Mantel auf, öffnete den Hosenschlitz und urinierte auf Fermín. Mein Freund rührte sich nicht; er war bloß noch ein Bündel alter Kleider in einer Lache. Während Fumero seinen satten, dampfenden Strahl auf ihn abgab, brachte ich noch immer kein Wort heraus. Als er fertig war, knöpfte er den Hosenstall wieder zu und trat keuchend und schwitzend zu mir. Einer der Polizisten reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er sich Gesicht und Hals trocknete. Er näherte sich mir bis auf wenige Zentimeter und starrte mich an.
Читать дальше