»Dir entgeht wohl gar nichts, was, Julián? Ich wollte tatsächlich mit dir auf das Thema zu sprechen kommen. Deine Mutter und ich diskutieren über deine Zukunft. Vor einigen Wochen hat sie mich in Sorge aufgesucht, weil dein Vater vorhat, dich nächstes Jahr in die Armee zu schicken. Natürlich will sie das Beste für dich und ist zu mir gekommen, um zu sehen, ob wir gemeinsam etwas unternehmen können. Mach dir keine Sorgen, ich gebe dir Ricardo Aldayas Wort, daß du kein Kanonenfutter sein wirst. Deine Mutter und ich haben Großes vor mit dir. Vertraue uns.« Julián wollte vertrauen, doch Don Ricardo flößte alles andere als Vertrauen ein. Als er sich mit Miquel Moliner beriet, stimmte dieser ihm zu.
»Wenn du wirklich mit Penélope fliehen willst, dann steh Gott dir bei — was du brauchst, ist Geld.« Geld hatte Julián keines.
»Das läßt sich regeln. Dafür gibt es reiche Freunde.« So begannen Miquel und Julián die Flucht der Liebenden zu planen. Auf Moliners Anregung sollte Paris das Ziel sein. Er war der Meinung, wenn Julián sich schon anschicke, ein Bohemienkünstler und Hungerleider zu sein, wäre die Kulisse von Paris unübertrefflich. Penélope sprach ein wenig Französisch, das für Julián dank des Unterrichts seiner Mutter eine zweite Sprache war.
»Zudem ist Paris groß genug, um sich zu verirren, aber klein genug, um Chancen zu haben«, meinte Miquel.Sein Freund häufte ein kleines Vermögen an, indem er seine jahrelangen Ersparnisse zu dem schlug, was er unter den seltsamsten Vorwänden aus seinem Vater herausholen konnte. Nur er wußte, wohin die beiden gehen würden.
»Und ich werde verstummen, sobald ihr den Zug besteigt.« Noch am selben Nachmittag, nachdem die letzten Einzelheiten mit Miquel geklärt waren, ging Julián in die Avenida del Tibidabo, um Penélope in den Plan einzuweihen.
»Was ich dir sagen werde, darfst du keinem Menschen erzählen. Niemandem. Nicht einmal Jacinta«, begann er.Das junge Mädchen lauschte sprachlos und verzaubert. Moliners Plan konnte nicht schiefgehen. Miquel würde die Fahrkarten unter einem falschen Namen kaufen und einen Dritten damit beauftragen, sie am Bahnschalter abzuholen. Sollte die Polizei ihn finden, so würde er ihnen als einziges die Beschreibung einer Person geben können, die Julián nicht glich. Die Flucht sollte an einem Sonntagmittag stattfinden. Julián und Penélope würden sich im Zug treffen — es gäbe kein Warten auf dem Bahnsteig, damit niemand sie sehen konnte. Julián käme allein zur Estación de Francia, wo ihn Miquel mit den Fahrkarten und dem Geld erwartete.Der heikelste war Penélopes Part. Sie mußte Jacinta belügen und sie bitten, mit ihr unter einem Vorwand die Elf-Uhr-Messe zu verlassen und sie nach Hause zu bringen. Unterwegs würde sie sie anflehen, Julián treffen zu dürfen, mit dem Versprechen, zurück zu sein, ehe die Familie nach Hause käme. Dann würde sie zum Bahnhof gehen. Beide wußten, daß Jacinta, wenn sie ihr die Wahrheit sagte, sie nicht würde gehen lassen. Sie liebte die beiden zu sehr.
»Ein guter Plan, Miquel«, hatte Julián gesagt, nachdem er sich die Strategie seines Freundes angehört hatte.Miquel nickte traurig.
»Außer einer Kleinigkeit. Daß ihr vielen Leuten weh tun werdet, wenn ihr für immer geht.« Julián hatte genickt und dabei an seine Mutter und Jacinta gedacht. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß Miquel Moliner sich selbst meinte.Am schwierigsten war es, Penélope von der Notwendigkeit zu überzeugen, Jacinta nichts von dem Plan zu sagen. Miquel wüßte als einziger die Wahrheit. Der Zug sollte um ein Uhr mittags fahren. Wenn Penélopes Fehlen bemerkt würde, wären sie schon jenseits der Grenze. In Paris würden sie unter falschem Namen als Mann und Frau in einer Herberge absteigen. Dann würden sie Miquel Moliner einen Brief für ihre Familien schicken, ihre Liebe gestehen und sagen, daß es ihnen gutging, daß sie sie liebhätten, würden ihre kirchliche Trauung ankündigen und sie um Verzeihung und Verständnis bitten. Miquel Moliner würde den Brief in einen andern Umschlag stecken, damit der Stempel aus Paris sie nicht verriete, und ihn dann von einer Ortschaft in der Umgebung aus abschicken.
»Wann?« fragte Penélope.
»In sechs Tagen«, antwortete Julián.
»Diesen Sonntag.« Miquel war der Ansicht, um keinen Verdacht zu erwecken, sollte Julián in den Tagen bis zur Flucht Penélope besser nicht mehr besuchen. Sie sollten sich absprechen und dann nicht mehr treffen bis zum Rendezvous im Zug nach Paris. Sechs Tage, ohne sie zu sehen und zu berühren, das war eine Unendlichkeit für ihn. Sie besiegelten den Pakt, eine geheime Ehe, mit einem Kuß auf die Lippen. Danach führte Julián Penélope in Jacintas Zimmer im dritten Stock des Hauses, wo sich nur die Dienstbotenräume befanden. Dort, glaubte Julián, würde sie niemand entdecken.
Wie in Trance zogen sie sich aus und erkundeten ihre Körper. Penélope hatte jede Spur von Zerbrechlichkeit und Kindlichkeit verloren. Nachdem sie ihre Sehnsucht gestillt hatten, blieb Julián kaum Zeit, sich aufzurichten, als sich langsam die Tür öffnete und eine Frauengestalt auf der Schwelle erschien. Eine Sekunde lang dachte Julián, es sei Jacinta, aber sogleich wurde ihm klar, daß es Señora Aldaya war, die sie gebannt und ebenso fasziniert wie angewidert beobachtete. Endlich brachte sie stammelnd heraus:
»Wo ist Jacinta?« Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und ging davon, während sich Penélope in stummer Verzweiflung auf dem Boden zusammenkauerte und Julián spürte, wie die Welt um ihn herum einstürzte.
»Geh jetzt, Julián. Geh, bevor mein Vater kommt.«
»Aber…«
»Geh.« Er nickte.
»Was auch geschehen mag, ich erwarte dich am Sonntag im Zug.« Penélope brachte ein knappes Lächeln zustande.
»Ich werde dort sein. Und jetzt geh. Bitte…«
Sie war noch nackt, als er sie verließ und über die Dienstbotentreppe zu den Garagen hinunterglitt und dann in die kälteste Nacht hinaustrat, an die er sich erinnern konnte.
Die nächsten Tage waren die schlimmsten seines Lebens. Er hatte die Nacht schlaflos verbracht, in der Erwartung, jeden Augenblick kämen ihn Don Ricardos Killer holen. Aber nicht einmal der Schlaf wollte kommen. Am nächsten Tag in der San-Gabriel-Schule nahm er in Jorge Aldayas Verhalten keine Veränderung wahr. Er verging beinahe vor Angst und gestand Miquel Moliner, was geschehen war. Miquel schüttelte den Kopf.
»Du bist verrückt, Julián, aber das ist ja nichts Neues. Merkwürdig ist nur, daß es bei den Aldayas keinen Aufruhr gegeben hat. Wenn man es richtig bedenkt, ist es allerdings auch wieder nicht erstaunlich. Wenn euch, wie du sagst, Señora Aldaya entdeckt hat, dann weiß sie möglicherweise noch nicht einmal selbst, was tun. Ich habe mich in meinem Leben dreimal mit ihr unterhalten und daraus zwei Schlüsse gezogen: Erstens, daß sie geistig etwa zwölf Jahre alt ist, zweitens, daß sie an chronischem Narzißmus leidet, der es ihr unmöglich macht, irgend etwas zu sehen oder zu begreifen, was sie nicht sehen oder begreifen will, besonders wenn es sie selbst betrifft.«
»Erspar mir die Diagnose, Miquel.«
»Ich meine damit nur, daß sie wahrscheinlich noch darüber nachdenkt, was und wie, wann und wem sie es sagen soll. Zuerst muß sie ja an die Folgen für sich selbst denken — den möglichen Skandal, die Wut ihres Mannes… Alles andere, wage ich anzunehmen, läßt sie kalt.«
»Du meinst also, sie wird nichts sagen?«
»Vielleicht erst in einem oder zwei Tagen. Aber ich glaube nicht, daß sie fähig ist, so etwas vor ihrem Mann geheimzuhalten. Was ist mit dem Fluchtplan? Gilt er noch?«
»Mehr denn je.«
»Freut mich, das zu hören. Jetzt glaube ich nämlich wirklich, daß es keine Umkehr mehr gibt.«
Diese Woche verging in tödlicher Langsamkeit. Die Ungewißheit auf den Fersen, ging Julián täglich in die San-Gabriel-Schule. Dort spielte er stundenlang den Anwesenden, doch er war kaum imstande, mit Miquel Moliner, der allmählich ebenso beunruhigt war wie er oder noch mehr, einige Blicke zu wechseln. Jorge Aldaya sagte nichts und war so höflich wie immer. Jacinta war ihn nicht mehr abholen gekommen. Dafür erschien jetzt jeden Nachmittag Don Ricardos Fahrer. Julián hatte das Gefühl, er sterbe, und wünschte sich, es möchte endlich geschehen, was geschehen mußte, dieses Warten möchte ein Ende haben. Am Donnerstagnachmittag nach dem Unterricht glaubte er langsam daran, daß das Glück auf seiner Seite stand. Señora Aldaya hatte nichts gesagt, vielleicht aus Scham, aus Dummheit oder aus irgendeinem der Gründe, die Miquel zu ahnen meinte. Das einzige, was zählte, war, daß sie das Geheimnis bis zum Sonntag für sich behielt. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen konnte er an diesem Abend einschlafen.
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