»Jacinta, ich bin Fermín, und dieses Jüngelchen da ist mein Freund Daniel. Ihr Freund schickt uns, Pater Fernando Ramos, der heute nicht kommen konnte, weil er zwölf Messen lesen mußte, Sie wissen ja, wie das mit diesen Heiligen ist, aber er läßt Sie tausendmal grüßen. Wie geht es Ihnen?«
Sie lächelte ihn sanft an. Mein Freund strich ihr mit der Hand über Gesicht und Stirn. Sie war dankbar wie ein Schmusekätzchen für die Berührung einer andern Haut. Mir zog sich die Kehle zusammen.
»So eine dumme Frage, was?« fuhr Fermín fort.
»Sie würden bestimmt gern irgendwo einen Schottisch aufs Parkett legen. Sie sehen nämlich aus wie eine Tänzerin, das sagen Ihnen sicher alle.«
Noch nie hatte ich ihn mit jemandem derart feinfühlig umgehen sehen, nicht einmal mit der Bernarda. Die Worte waren zwar pure Süßholzraspelei, aber der Ton und sein Gesicht waren aufrichtig.
»Was für schöne Dinge Sie da sagen«, murmelte sie mit vom Nichtgebrauch brüchiger Stimme.
»Nicht halb so schön wie Sie, Jacinta. Glauben Sie, wir dürften Ihnen ein paar Fragen stellen? Wie in den Rundfunkwettbewerben, wissen Sie.« Die alte Frau blinzelte nur.
»Ich würde sagen, das heißt ja. Erinnern Sie sich noch an Penélope, Jacinta? Penélope Aldaya? Zu ihr möchten wir Ihnen ein paar Fragen stellen.« Jacinta nickte mit unversehens leuchtendem Blick.
»Meine Kleine«, flüsterte sie, und es sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Genau. Sie erinnern sich, ja? Wir sind Freunde von Julián. Julián Carax. Der mit den Schauergeschichten, an den erinnern Sie sich ebenfalls, nicht wahr?« Die Augen der Alten glänzten, als gäben ihr die Worte und die Berührung auf der Haut zusehends das Leben zurück.
»Pater Fernando von der San-Gabriel-Schule hat uns gesagt, Sie hätten Penélope sehr geliebt. Er liebt Sie auch sehr und erinnert sich jeden Tag an Sie, wissen Sie. Wenn er nicht öfter kommt, dann, weil ihn der neue Bischof, ein Emporkömmling, mit einem Pensum von Messen plagt, daß er auf dem letzten Loch pfeift.«
»Und essen Sie auch genug?« fragte sie plötzlich beunruhigt.
»Ich schlinge wie ein Holzhacker, Jacinta, aber ich habe eben einen sehr männlichen Stoffwechsel und verbrenne alles.Aber schauen Sie mich an, unter diesen Kleidern ist alles nur Muskel. Fassen Sie an, fassen Sie an. Wie Charles Atlas, nur haariger.« Jacinta nickte, etwas ruhiger. Sie hatte nur Augen für Fermín. Mich hatte sie vollkommen vergessen.
»Was können Sie uns über Penélope und Julián sagen?«
»Alle gemeinsam haben sie sie mir weggenommen«, sagte sie.
»Meine Kleine.« Ich wollte etwas sagen, doch Fermín warf mir einen Blick zu, der mich schweigen hieß.
»Wer hat Ihnen Penélope weggenommen, Jacinta?
Können Sie sich noch erinnern?«
»Der Herr«, antwortete sie und schaute voller Angst empor, als fürchtete sie, jemand könnte uns hören. Fermín folgte ihrem Blick in die Höhe.
»Meinen Sie den allmächtigen Gott, Herrscher der Himmel, oder eher den Herrn Vater von Señorita Penélope, Don Ricardo?«
»Wie geht’s Fernando?« fragte sie.
»Dem Geistlichen? Wie eine Rose. Eines schönen Tages wird er zum Papst gewählt und holt Sie zu sich in die Sixtinische Kapelle. Er läßt Sie vielmals grüßen.«
»Er kommt mich als einziger besuchen, wissen Sie. Er kommt, weil er weiß, daß ich sonst niemand habe.« Fermín warf mir einen verstohlenen Blick zu, als dächte er dasselbe wie ich. Jacinta Coronado war sehr viel vernünftiger, als es den Anschein machte. Der Körper erlosch, aber Geist und Seele verbrannten in diesem Elendsloch nur langsam. Ich fragte mich, wie viele weitere wie sie und das zügellose Alterchen hier noch gefangen waren.
»Er kommt, weil er Sie sehr gern hat, Jacinta. Weil er sich erinnert, wie sehr Sie sich um ihn als Jungen gekümmert und wie gut Sie ihn ernährt haben, er hat uns alles erzählt. Wissen Sie noch, Jacinta? Erinnern Sie sich an damals, als Sie Jorge jeweils von der Schule abgeholt haben, erinnern Sie sich noch an Fernando und Julián?«
»Julián…« Ihre Stimme war ein schleppendes Flüstern, aber das Lächeln verriet sie.
»Erinnern Sie sich an Julián Carax, Jacinta?«
»Ich erinnere mich an den Tag, an dem Penélope zu mir gesagt hat, sie werde ihn heiraten…« Fermín und ich schauten einander verdutzt an.
»Heiraten? Wann war das, Jacinta?«
»An dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sie war dreizehn und wußte nicht, wer er war noch wie er hieß.«
»Wie konnte sie da wissen, daß sie ihn heiraten würde?«
»Sie hatte ihn gesehen. Im Traum.«
…Als Kind war María Jacinta Coronado überzeugt, jenseits der Stadtgrenzen von Toledo gebe es nur Dunkelheit und Feuermeere. Diese Vorstellung stammte aus einem Traum, den sie während einer Fiebererkrankung hatte, die ihrem Leben mit vier Jahren fast ein Ende bereitet hätte. In ihren späteren Träumen sah Jacinta die Vergangenheit und die Zukunft, und manchmal ahnte sie Geheimnisse und Mysterien der alten Straßen von Toledo. Einer der Dauerbesucher ihrer Träume war Zacharias, ein stets schwarzgekleideter Engel in Begleitung einer dunklen Katze mit gelben Augen und nach Schwefel stinkendem Atem. Zacharias wußte alles und hatte ihr auch die Todesstunde ihres Onkels prophezeit, des Salben- und Weihwasserkrämers Venancio. Er hatte ihr verkündet, in ihrem Bauch sitze etwas Ungutes fest, ein toter Geist, der ihr übelwolle, und sie werde nur eines einzigen Mannes Liebe kennenlernen, eine leere, egoistische Liebe, die ihr das Herz brechen werde. Er hatte ihr vorhergesagt, sie werde zu Lebzeiten alles zugrunde gehen sehen, was ihr lieb und teuer sei, und vor ihrer Ankunft im Himmel die Hölle besuchen. Am Tag ihrer ersten Menstruation verschwanden Zacharias und seine Schwefelkatze aus ihren Träumen, aber Jahre später erinnerte sie sich wieder an die Besuche des schwarzgekleideten Engels, denn all seine Prophezeiungen hatten sich erfüllt.
So war Jacinta nicht überrascht, als ihr die Ärzte sagten, sie werde nie Kinder bekommen, und, obwohl der Schmerz sie beinahe umbrachte, ebensowenig, als ihr Mann nach drei Jahren Ehe verkündete, er verlasse sie wegen einer andern, denn sie sei wie ödes Brachland, das keine Frucht trage. In Abwesenheit von Zacharias, den sie für einen Sendboten des Himmels hielt, sprach sie mit Gott. All ihre Monologe mit ihm kreisten um dasselbe Thema: Sie wünschte sich nur eines, Mutter und Frau zu sein.
Als sie einmal wie so oft in der Kathedrale betete, trat ein Mann zu ihr, in dem sie Zacharias erkannte. Er war angezogen wie immer und hatte seine Katze auf dem Schoß. Er war um keinen Tag gealtert und hatte noch immer diese prächtigen Herzoginnenfingernägel, lang und spitz. Er gestand ihr, er sei gekommen, weil Gott auf ihre Bittgebete nicht zu antworten gedenke. Sie solle sich aber nicht grämen, er werde ihr dennoch ein Kind schicken. Er beugte sich über sie, raunte ihr das Wort Tibidabo ins Ohr und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Bei der Berührung mit diesen weichen Lippen hatte Jacinta eine Vision: Sie würde ein Kind haben, ein Mädchen, ohne einen Mann dafür zu brauchen. Dieses Mädchen würde in einer weit entfernten Stadt zu ihr kommen, die zwischen einem Mond aus Bergen und einem Meer aus Licht gefangen war, eine Stadt aus Häusern, welche nur im Traum existieren können. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrhaftigkeit der Prophezeiungen. Noch am selben Abend besprach sie sich mit dem Diakon der Kirchgemeinde, einem belesenen, weitgereisten Mann, der zu ihr sagte:
»Jacinta, was du da gesehen hast, ist Barcelona, die große Zauberin, und die Sagrada-FamiliaKirche…« Zwei Wochen später machte sich Jacinta mit einem Bündel Wäsche, einem Meßbuch und ihrem ersten Lächeln in fünf Jahren auf den Weg nach Barcelona, in der festen Überzeugung, alles, was ihr der Engel Zacharias beschrieben habe, werde sich verwirklichen.
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