»Na, geht’s nach Hause, Chef?« Gedankenlos setzte ich mich in seinen Wagen. Im Rückspiegel beobachteten mich die Augen des Fahrers. Das Taxi, das mit Bea davonfuhr, zwei leuchtende Punkte, verlor sich in der Schwärze.
Ich konnte nicht einschlafen, bis der Morgen mein Fenster mit hundert Grautönen übergoß, einer betrüblicher als der andere. Fermín, der vom Kirchplatz aus Steinchen an meine Scheibe warf, weckte mich. Ich zog das Erstbeste an, was ich fand, und ging hinunter, um ihm zu öffnen. Er brachte seine unerträgliche Montagmorgenbegeisterung mit. Wir zogen das Gitter hoch und hängten das Schild Offen hinaus.
»Sie haben vielleicht Ringe um die Augen, Daniel. Groß wie ein Baugrundstück. Man sieht, daß Sie den Stier bei den Hörnern gepackt haben.«
Im Hinterraum band ich mir meinen blauen Kittel um und reichte ihm den seinen — besser gesagt, ich warf ihn ihm ingrimmig zu. Fermín schnappte ihn sich im Flug, ganz verschmitztes Grinsen.
»Eher hat mich der Stier auf die Hörner genommen«, sagte ich.
»Überlassen Sie die geistreichen Sprüche Don Ramón Gómez de la Serna, Ihre leiden an Anämie. Na los, erzählen Sie.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Das überlasse ich Ihnen. Die Anzahl Degenstiche oder die Ehrenrunden in der Arena.«
»Mir ist nicht nach Witzen, Fermín.«
»O Jugend, Blüte der Einfalt. Kommen Sie, ärgern Sie sich nicht über mich — ich habe brandaktuelle Nachrichten bezüglich unserer Ermittlungen über Ihren Freund Julián Carax.«
»Ich bin ganz Ohr.« Er warf mir seinen CIA-Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen, die andere wachsam.
»Nun, nachdem ich gestern die Bernarda mit intakter Keuschheit, aber zwei saftigen blauen Flecken am Gesäß nach Hause gebracht hatte, habe ich von wegen Abendlatte eine Schlaflosigkeitsattacke erlitten und diesen Umstand genutzt, um eine der Informationsstellen der Barceloneser Unterwelt aufzusuchen, nämlich die Schenke von Eliodoro Salfumán alias Kaltschwanz, ein ungesundes, aber sehr pittoreskes Lokal in der Calle Sant Jeroni, Stolz und Seele des Raval.«
»Machen Sie es um Gottes willen kurz, Fermín.«
»Bin schon dabei. Also, dort angekommen, habe ich mich bei einigen der Stammgäste, alten Leidensgenossen, eingeschmeichelt und über diesen Miquel Moliner zu ermitteln begonnen, den Mann ihrer Mata Hari Nuria Monfort und angeblichen Insassen der Stadtpensionate.«
»Angeblich?«
»Nie treffender gesagt, denn in diesem Fall ist es, wenn ich mich so ausdrücken darf, vom Adjektiv zur Tatsache nicht einmal ein Katzensprung. Ich weiß aus Erfahrung, daß hinsichtlich der Zuchthausinsassenschaft meine Informanten in besagter Kneipe verläßlicher sind als die Blutsauger des Justizpalastes, und ich kann Ihnen versichern, mein lieber Daniel, daß in den letzten zehn Jahren niemand von einem Miquel Moliner als Gefangenem, Besucher oder sonstigem Lebewesen in Barcelonas Gefängnissen gehört hat.«
»Vielleicht sitzt er anderswo ein.«
»Na klar, in Alcatraz, Sing-Sing oder in der Bastille. Daniel, diese Frau hat Sie angeschwindelt.«
»Es ist zu vermuten.«
»Nicht zu vermuten, zu akzeptieren.«
»Und was nun? Miquel Moliner ist eine tote Spur.«
»Oder diese Nuria für Sie eine Spur zu gewitzt.«
»Was empfehlen Sie?«
»Für den Moment, andere Wege zu verfolgen. Es wäre keineswegs müßig, dieses alte Weiblein zu besuchen, die gute Kinderfrau aus dem Märchen, das uns der Geistliche gestern vormittag aufgetischt hat.«
»Sagen Sie nicht, Sie vermuten, auch die Kinderfrau sei verschwunden.«
»Nein, aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir die Zimperlichkeiten lassen und nicht mehr ans Portal klopfen, als bäten wir um ein Almosen. In dieser Angelegenheit muß man durch die Hintertür hinein. Einverstanden?«
»Vermutlich treffen Sie den Nagel auf den Kopf, Fermín.«
»Dann holen Sie mal einen Hammer, heute abend werden wir gleich nach Ladenschluß der Frau im Altenheim Santa Lucía einen Barmherzigkeitsbesuch abstatten. Und jetzt erzählen Sie, wie ist es Ihnen gestern mit diesem Backfisch ergangen? Seien Sie doch nicht so verschlossen — was Sie mir verschweigen, wird als Eiterpickel durchschlagen.« Ich seufzte und gestand ihm alles haarklein. Als ich zu Ende war und auch meine Ängste geschildert hatte, überraschte mich Fermín mit einer plötzlichen, tiefempfundenen Umarmung.
»Sie sind verliebt«, murmelte er gerührt, während er mir auf die Schulter klopfte.
»Sie Armer.« An diesem Abend verließen wir die Buchhandlung pünktlich zur Ladenschlußzeit, was uns einen scharfen Blick meines Vaters eintrug, dem allmählich schwante, daß wir bei diesem ganzen Hin und Her etwas im Schilde führten. Fermín stotterte einiges Unzusammenhängende über unerledigte Besorgungen, und dann machten wir uns eiligst dünne. Vermutlich würde ich meinem Vater über kurz oder lang reinen Wein einschenken müssen, wenigstens teilweise — welcher Teil das sein würde, war eine andere Frage.Unterwegs schilderte mir Fermín mit seinem ausgeprägten Sinn für Hintertreppenfolklore den Schauplatz, den wir aufzusuchen im Begriff waren. Das Altenheim Santa Lucía war eine Einrichtung von gespenstischem Ruf und befand sich in einem halbverfallenen Palast in der Calle Montcada. Die Legende beschrieb ihn als eine Mischung aus Purgatorium und Leichenhalle mit prekärsten sanitären Bedingungen. Vom 11. Jahrhundert an hatte er unter anderem mehrere vornehme Familien, ein Gefängnis, einen Kurtisanensalon, eine Bibliothek mit verbotenen Handschriften, eine Kaserne, eine Bildhauerwerkstatt, ein Pestsanatorium und ein Kloster beherbergt. Mitte des 19. Jahrhunderts, als er mehr oder weniger zerfiel, war er in ein Museum der Mißgeburten und Abscheulichkeiten umgewandelt worden. Dessen Leiter nannte sich László de Vicherny, Herzog von Parma und Privatalchimist der Bourbonen, hieß mit richtigem Namen aber Baltasar Deulofeu i Carallot, gebürtig aus Esparraguera, und war ein professioneller Betrüger und notorischer Casanova.Dieser Mann rühmte sich, in Formolfläschchen verwahrt die größte Sammlung menschlicher Föten sein eigen zu nennen. Unter anderem bot das Tenebrarium, wie Deulofeu sein Werk getauft hatte, spiritistische und nekromantische Sitzungen, Hahnen-, Ratten-, Hunde-, Weiber-, Behinderten- und gemischte Kämpfe mit den entsprechenden Wetten an, dazu ein Krüppel- und Ungeheuerbordell, ein Kasino, eine Rechts- und Finanzberatungsstelle, ein Liebestrankatelier, eine Bühne für Schauspiele regionaler Folklore, Marionettentheater und Revuen exotischer Tänzerinnen.Fünfzehn Jahre lang war das Tenebrarium ein durchschlagender Erfolg, bis die schwärzeste Schande über die Vergnügungsstätte und ihren Schöpfer fiel, als nämlich aufflog, daß Deulofeu innerhalb einer einzigen Woche die Gattin, die Tochter und die Schwiegermutter des Militärgouverneurs der Provinz verführt hatte. Bevor er aus der Stadt fliehen und eine andere seiner vielen Identitäten annehmen konnte, hetzte ihn ein Killertrupp durch die Gassen des Santa-María-Viertels, um ihn im Zitadellenpark aufzuhängen und anzuzünden und seinen Körper dann den herrenlosen Hunden zum Fraße vorzuwerfen. Nachdem es zwei Jahrzehnte verlassen gewesen war und niemand sich die Mühe gemacht hatte, Lászlós Abscheulichkeiten zu beseitigen, wurde das Tenebrarium von einem religiösen Orden in eine Fürsorgeinstitution umgewandelt.
»Dummerweise sind alle sehr geheimniskrämerisch, was diesen Ort betrifft — aus schlechtem Gewissen, würde ich sagen —, so daß wir uns irgendeinen Vorwand werden ausdenken müssen, um einzudringen«, sagte Fermín.In jüngerer Zeit rekrutierten sich die Insassen des Altenheims Santa Lucía aus den Reihen der Scheintoten, verlassenen Greise, Geistesgestörten, Bedürftigen und dem einen oder andern komischen Heiligen, die alle zusammen die unterste Hefe von Barcelona bildeten. Zu ihrem Glück überlebten die meisten ihren Eintritt nicht lange; der Zustand des Ortes und die Gesellschaft luden nicht zur Langlebigkeit ein.
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