»Komm, wir machen ein Feuer, damit dir wieder warm wird.« Sie führte mich durch den Korridor an den Fuß der Galerie, die den Saal des Hauses beherrschte. Dieser reckte sich in Marmorsäulen und kahlen Mauern zur Täfelung einer stückweise abgebröckelten Decke empor. Man erahnte die Rahmen von Bildern und Spiegeln, die vor Zeiten die Wände bedeckt hatten, sowie die Spuren von Möbeln auf dem Marmorboden. Am einen Ende des Saals lagen in einem Kamin einige Scheite bereit. Neben einem Schürhaken türmte sich ein Stapel alter Zeitungen. Der Kamin roch nach frischem Feuer und Kohlenstaub. Bea kniete vor ihm nieder und stopfte mehrere Zeitungsseiten zwischen die Scheite. Mit einem Streichholz steckte sie sie in Brand, und rasch bildete das Feuer einen Kranz. Kundig schoben ihre Hände das Holz zurecht. Vermutlich dachte sie, ich verzehre mich vor Neugier und Ungeduld, aber ich setzte ein desinteressiertes Gesicht auf, das zeigen sollte, daß sie, wenn sie mit mir geheimniskrämern wollte, den kürzeren ziehen würde. Sie lächelte triumphierend. Wahrscheinlich wertete das Zittern meiner Hände mein Ansehen nicht gerade auf.
»Kommst du oft hierher?« fragte ich.
»Heute zum ersten Mal. Gespannt?«
»Ein klein wenig.« Sie kniete wieder vor dem Feuer nieder, zog eine Wolldecke aus einer Segeltuchtasche und breitete sie aus. Sie roch nach Lavendel.
»Komm, setz dich hierher ans Feuer, nicht daß du meinetwegen noch eine Lungenentzündung kriegst.« Die Wärme des Kamins gab mir das Leben zurück. Schweigend, verzaubert schaute Bea in die Flammen.
»Wirst du mir das Geheimnis erzählen?« fragte ich schließlich.Sie setzte sich auf einen der Stühle. Ich blieb dicht am Feuer sitzen und schaute zu, wie der Dampf aus meinen Kleidern aufstieg.
»Was du das Aldaya-Haus nennst, hat eigentlich einen richtigen Namen, nämlich Nebelburg, aber das weiß fast niemand. Seit fünfzehn Jahren versucht das Büro meines Vaters, diesen Besitz zu verkaufen, erfolglos. Als du mir neulich die Geschichte von Julián Carax und Penélope Aldaya erzählt hast, habe ich nicht weiter darauf geachtet. Später, am Abend zu Hause, ist mir einiges aufgegangen, und ich habe mich daran erinnert, daß ich meinen Vater einmal von der Familie Aldaya habe sprechen hören, und zwar von diesem Haus. Gestern bin ich in sein Büro gegangen, und sein Sekretär, Casasús, hat mir die Geschichte des Hauses erzählt. Hast du gewußt, daß das in Wirklichkeit gar nicht ihr offizieller Wohnsitz war, sondern eines ihrer Sommerhäuser?« Ich verneinte.
»Das Haupthaus der Aldayas war ein Palast, der 1925 abgerissen wurde, um einem Mietshaus Platz zu machen, an der heutigen Kreuzung der Calle Bruch und der Calle Mallorca. Dieses Haus war im Auftrag des Großvaters von Penélope und Jorge, Simón Aldaya, 1896 von Puig i Cadafalch erbaut worden, als es dort nichts als Felder und Bewässerungskanäle gab. Die Nebelburg hingegen hatte der älteste Sohn des Patriarchen Simón, Don Ricardo Aldaya, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts einem höchst pittoresken Mann abgekauft — zu einem Spottpreis, denn das Haus hatte einen üblen Ruf. Casasús meinte, es sei verflucht und nicht einmal die Verkäufer würden sich herwagen, um es zu zeigen, und sich unter irgendwelchen Vorwänden verdrücken…«
Während ich mich aufwärmte, erzählte mir Bea, wie die Nebelburg in den Besitz der Familie Aldaya gelangt war. Es war eine Schauergeschichte, die ebensogut aus Julián Carax’ Feder hätte geflossen sein können. 1899/1900 war das Haus vom Architektenbüro Naulí, Martorell und Bergadà unter der Schirmherrschaft eines extravaganten katalanischen Financiers namens Salvador Jausà erbaut worden, der nur ein Jahr darin leben sollte. Bereits mit sechs Jahren Waise und aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte der Magnat sein Vermögen größtenteils in Kuba und Puerto Rico zusammengetragen. Aus der Neuen Welt brachte er aber nicht nur ein Vermögen mit: Er kam in Begleitung einer nordamerikanischen Gattin, einer blassen, zerbrechlichen jungen Dame aus Philadelphias vornehmer Gesellschaft, die kein Wort Spanisch sprach, und eines farbigen Dienstmädchens, das seit seinen ersten Kubajahren in seinem Dienst gestanden hatte und einen als Harlekin gekleideten Affen in einem Käfig sowie sieben Überseekoffer Gepäck mitführte. Bis zum Kauf eines Wohnsitzes, der dem Geschmack und Verlangen Jausàs entsprach, bezogen sie mehrere Zimmer im Hotel Colòn auf der Plaza de Cataluña.
Niemand zweifelte daran, daß das Dienstmädchen — eine Schönheit aus Ebenholz mit einem Blick und einer Figur, die, wie es in den Gesellschaftsreportagen hieß, zu Herzjagen führten — seine Geliebte und Lehrmeisterin in unbeschreiblichen Vergnügungen war. Daß sie eine Hexe und Zauberin war, verstand sich ohnehin. Sie hieß Marisela, oder zumindest nannte Jausà sie so, und in Kürze wurden ihr Aussehen und ihr Verhalten zum Lieblingsärgernis der Gesellschaften, die die Damen aus gutem Hause gaben, um Baisers zu kosten und die Zeit und die herbstliche Hitze totzuschlagen. Gerüchte machten die Runde, wonach es diese Afrikanerin auf dem Manne sitzend mit diesem trieb, ihn reitend wie ein brünstiges Weib, was gegen mindestens fünf Todsünden verstieß. Um das Maß vollzumachen, hatte Jausà auch noch die Unverfrorenheit, jeweils am Sonntagvormittag mit seiner Gattin und Marisela in seinem Wagen spazierenzufahren und so der Jugend auf dem Paseo de Gracia unterwegs zur Elf-Uhr-Messe ein Schauspiel des Sittenverfalls zu bieten.
Zu jener Zeit war Barcelona schon vom Jugendstilfieber erfaßt, aber Jausà gab den für den Bau seiner neuen Bleibe angeheuerten Architekten unmißverständlich zu verstehen, daß er etwas anderes wollte. Anders war das bevorzugte Adjektiv seines Vokabulars. Er war jahrelang an der Reihe neugotischer Villen vorüberspaziert, die sich die Magnaten des Industriezeitalters in der Fünften Avenue zwischen der 58. und der 72. Straße auf der Ostseite des Central Park hatten bauen lassen. Er wünschte sich seinen Wohnsitz fern von der Stadt, in der damals noch relativ öden Gegend der Avenida del Tibidabo, um, wie er sagte, Barcelona aus der Distanz zu betrachten. Als einzige Gesellschaft begehrte er einen Park mit Engelsstatuen, die gemäß seinen Anweisungen an den Spitzen eines siebenzackigen Sterns zu stehen hatten. Zur Ausführung seiner Pläne sandte Salvador Jausà seine Architekten für drei Monate nach New York, damit sie die Wahnsinnsbauten studierten, welche errichtet worden waren, um Commodore Vanderbilt, die Familie von Johann Jacob Astor, Andrew Carnegie und die übrigen fünfzig goldenen Familien zu beherbergen.
Ein Jahr später sprachen die drei Architekten in seinen Gemächern im Hotel Colón vor, um ihm das Projekt zu präsentieren. In Mariselas Anwesenheit hörte Jausà ihnen schweigend zu und beauftragte dann das Architektenbüro, den Bau ungeachtet der Kosten in einem halben Jahr zu errichten. Sieben Monate später, im Juli 1900, zogen Jausà, seine Gattin und das Dienstmädchen Marisela in das Haus ein. Im August dieses Jahres waren die beiden Frauen tot, und die Polizei fand Salvador Jausà nackt und mit den Händen an den Sessel seines Arbeitszimmers gefesselt. Im Polizeirapport stand, die Wände des ganzen Hauses seien mit Blut verschmiert, die Engelsstatuen rund um den Park verstümmelt und ihre Gesichter nach Art von Stammesmasken bemalt gewesen. Auf den Sockeln seien Spuren von schwarzen Altarkerzen gefunden worden. Die Untersuchung dauerte acht Monate.
Laut den Ermittlungen der Polizei schien alles darauf hinzudeuten, daß Jausà und seine Gattin von Marisela, in deren Räumen mehrere Fläschchen eines Pflanzenextrakts gefunden wurden, mit diesem vergiftet worden waren. Aus irgendeinem Grund hatte Jausà überlebt, doch die Folgeerscheinungen des Giftes waren schrecklich — er verlor das Gehör, war teilweise gelähmt und litt unter ungeheuren Schmerzen. Señora Jausà wurde auf dem Bett in ihrem Zimmer gefunden, nur mit ihren Juwelen und einem Brillantarmband angetan. Die Polizei vermutete, daß sich Marisela nach Verübung des Verbrechens mit einem Messer die Adern aufgeschnitten hatte und dann so lange durchs Haus gelaufen war und die Gang- und Zimmerwände mit ihrem Blut bespritzt hatte, bis sie in ihrem Dachgemach tot umgefallen war. Anscheinend war Jausàs Gattin im Moment ihres Todes schwanger gewesen. Marisela, so hieß es, habe auf den nackten Bauch der Señora mit heißem rotem Wachs einen Schädel gezeichnet. Einige Monate später legte die Polizei den Fall zu den Akten. Viele aus der feinen Gesellschaft freuten sich, daß Salvador Jausàs Exzentrizitäten ein Ende genommen hatten. Das war ein Irrtum — sie hatten eben erst begonnen.
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