»An nichts. Ich kann mich seit Jahren nicht mehr an meine Mutter erinnern. Weder an ihr Gesicht noch an ihre Stimme oder ihren Geruch. Das ist mit dem Tag verschwunden, an dem ich Julián Carax entdeckt habe, und es ist nicht wiedergekommen.« Fermín schaute mich etwas ungläubig an und wog seine Antwort ab.
»Haben Sie denn kein Bild von ihr?«
»Ich habe die Bilder nie anschauen mögen.«
»Warum nicht?« Noch nie hatte ich das jemandem erzählt, nicht einmal meinem Vater oder Tomás.
»Weil es mir Angst macht. Es macht mir Angst, ein Bild meiner Mutter zu suchen und eine Fremde in ihr zu entdecken. Sie finden das bestimmt dumm.« Er schüttelte den Kopf.
»Und darum denken Sie, wenn Sie das Geheimnis von Julián Carax ergründen können und ihn der Vergessenheit entreißen, wird das Gesicht Ihrer Mutter zurückkehren?« Ich schaute ihn schweigend an. In seinem Blick lag weder Ironie noch ein Urteil. Einen Moment lang erschien mir Fermín Romero de Torres als der scharfsinnigste und weiseste Mensch der Welt.
»Vielleicht«, sagte ich schließlich.Punkt zwölf Uhr nahmen wir einen Bus zurück ins Stadtzentrum. Wir setzten uns vorne hin, direkt hinter den Fahrer, was Fermín nutzte, um mit ihm ein Gespräch über die vielen technischen und hygienischen Fortschritte zu beginnen, die er beim oberirdischen öffentlichen Verkehr feststellte, seit er ihn 1940 letztmals benutzt hatte, insbesondere bezüglich der Beschilderung, wie eine Tafel mit den Worten Spucken und zotiges Reden verboten bezeugte. Fermín studierte sie und erwies ihr seine Reverenz, indem er geräuschvoll einen kräftigen Auswurf von sich gab, was uns die bitterbösen Blicke eines Kommandos von drei Duttträgerinnen eintrug, die, mit Meßbüchern ausgerüstet, im hinteren Teil mitfuhren.
»Rüpel«, murmelte die eine Frömmlerin, die erstaunlich dem offiziellen Bild von General Yagüe glich.
»Da hast du sie«, sagte Fermín.
»Drei Heilige hat mein Spanien: die heilige Empörung, die eisheilige Jungfer und die heilige Zimperliese. Alle gemeinsam haben wir aus diesem Land einen Witz gemacht.«
»Recht haben Sie«, stimmte der Fahrer bei.
»Unter Azaña war alles besser. Vom Verkehr gar nicht zu reden. Es ist zum Kotzen.« Ein weiter hinten sitzender Mann lachte über den Gedankenaustausch. Ich erkannte in ihm den Beobachter vom Nebentisch in der Kneipe. Sein Ausdruck schien anzudeuten, daß er auf Fermíns Seite war und gern gesehen hätte, wie der seine Wut an den drei Frauen ausließ. Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm. Er lächelte mir freundlich zu und schaute dann wieder in seine Zeitung. Als wir in die Calle Ganduxer kamen, sah ich, daß sich Fermín in seinen Mantel eingekuschelt hatte und mit offenem Mund und glückseligem Gesicht ein Nickerchen machte. Der Bus rollte durch die geschniegelte Herrschaftlichkeit des Paseo de San Gervasio, als Fermín plötzlich hochfuhr.
»Ich habe von Pater Fernando geträumt«, sagte er.
»Nur, daß er in meinem Traum als Jäger gekleidet war und einen erlegten Bären neben sich liegen hatte, der glänzte wie lauteres Gold.«
»Und was soll das?«
»Wenn Freud recht hat, bedeutet das, daß uns der Geistliche möglicherweise einen Bären aufgebunden hat.«
»Mir kam er ehrlich vor.«
»Eigentlich schon. Vielleicht zu ehrlich, als es für ihn gut ist. Geistliche mit einem Hang zum Heiligen schickt man irgendwann alle in die Mission, wo sie dann von Moskitos oder Piranhas aufgefressen werden.«
»So schlimm wird’s wohl nicht sein.«
»Was haben Sie für eine gesegnete Unschuld, Daniel. Sie glauben ja noch an die Geschichte vom Mäuschen und dem Zahn. Also, nur ein kleines Beispiel: Dieser Schwindel von Miquel Moliner, den Ihnen Nuria Monfort da verzapft hat. Ich habe den Eindruck, dieses Frauenzimmer hat Ihnen mehr Lügen aufgetischt als die Meinungsseite des Osservatore Romano. Jetzt soll sie also mit einem Jugendfreund von Aldaya und Carax verheiratet sein, sieh mal einer an. Und dazu haben wir noch die Geschichte von Jacinta, der guten Kinderfrau, die ja sein mag, aber mir riecht sie allzusehr nach Rührstück. Ganz zu schweigen von Fumeros Starauftritt in der Rolle des Killers.«
»Sie glauben also, Pater Fernando hat uns angeschwindelt?«
»Nein. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß er ehrlich wirkt, aber das Ordensgewand wiegt schwer, und womöglich hat er sich nicht ins Meßbuch gucken lassen wollen, um es mal so zu sagen. Ich glaube, wenn er uns angekohlt hat, dann aus Unterlassung oder Anstand, nicht um uns eins auszuwischen oder aus Bosheit. Zudem halte ich ihn nicht für fähig, einen solchen Schwindel zu erdichten. Wenn er besser lügen könnte, würde er nicht Algebra und Latein unterrichten, er säße längst im Bistum, mit einem Kardinalsbüro und frischen Marzipanbaisers zum Kaffee.«
»Was sollen wir also tun?«
»Früher oder später werden wir die Mumie des Engelsgroßmütterchens ausgraben und an den Knöcheln schütteln müssen, um zu sehen, was dabei rauskommt. Einstweilen werde ich an einigen Fäden ziehen, vielleicht kriege ich über diesen Miquel Moliner etwas heraus. Und es wäre auch nicht überflüssig, ein Auge auf Nuria Monfort zu werfen, ich glaube, es zeigt sich immer deutlicher, daß sie das ist, was meine verstorbene Mutter eine Schlange genannt hat.«
»Sie irren sich in ihr«, sagte ich.
»Ihnen braucht man nur zwei hübsch gewachsene Brüste zu zeigen, und schon glauben Sie, Sie haben die heilige Theresia von Avila gesehen, wofür es in Ihrem Alter eine Entschuldigung, wenn nicht Abhilfe gibt. Überlassen Sie sie mir, Daniel, mich macht der Wohlgeruch des ewig Weiblichen nicht mehr so verrückt wie Sie. In meinen Jahren wird die Durchblutung des Kopfes wichtiger als die der Weichteile.«
»Das sagen ausgerechnet Sie.« Fermín zog seinen Geldbeutel hervor und begann den Inhalt zu zählen.
»Sie haben ja ein Vermögen dabei«, sagte ich.
»Und all das ist vom Wechselgeld heute früh übriggeblieben?«
»Zum Teil. Der Rest ist rechtens. Heute führe ich eben meine Bernarda aus. Dieser Frau kann ich einfach nichts abschlagen. Notfalls überfalle ich die Bank von Spanien, um ihr all ihre Launen zu erfüllen. Was haben denn Sie vor für den Rest des Tages?«
»Nichts Besonderes.«
»Und dieses Mädchen, na?«
»Welches Mädchen?«
»Die mit dem schauerlichen Dutt. Welches Mädchen wohl — Aguilars Schwester natürlich!«
»Ich weiß nicht.«
»Wissen tun Sie’s schon, aber was Sie machen, das ist, auf gut deutsch, den Schwanz zwischen die Beine kneifen, statt den Stier bei den Hörnern zu packen.« Auf diese Worte hin kam mit müdem Gesicht und zwischen den Lippen kunstvoll tanzendem Zahnstocher der Schaffner auf uns zu und sagte:
»Sie entschuldigen, aber die Damen dort bitten Sie, etwas züchtigere Worte zu gebrauchen.«
»Die können sich ja verpissen, wenn’s ihnen nicht paßt«, sagte Fermín laut.Achselzuckend wandte sich der Schaffner zu den drei Frauen um, womit er ihnen zu verstehen gab, daß er alles in seiner Macht Stehende getan habe und nicht bereit sei, sich wegen einer Frage der Wortwahl eine Ohrfeige einzuhandeln.
»Daß sich Leute, die kein Leben haben, immer in dasjenige der andern einmischen müssen«, murmelte Fermín.
»Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei meinem fehlenden Mut.«
»Eben. Ein chronischer Fall. Hören Sie auf mich. Gehen Sie, holen Sie Ihr Mädchen, das Leben vergeht im Flug, vor allem der lebenswerte Teil. Sie haben ja gehört, was der Geistliche gesagt hat. Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Aber es ist doch gar nicht mein Mädchen.«
»Dann erobern Sie sie eben, bevor ein anderer sie Ihnen wegschnappt, besonders so ein kleiner Zinnsoldat.«
»Sie reden von Bea, als wäre sie eine Trophäe.«
Читать дальше